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Lamento

Titel: Lamento Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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die normale Pärchen eben so machten. Wir würden das Smithsonian besuchen und uns bemühen, moderne Kunst zu interpretieren. Wir würden ins Kino gehen, uns alberne Action-Filme anschauen und über die melodramatischen Dialoge lachen. Wir würden im Nationalpark wandern gehen und zuschauen, wie der Sommer hinter dem Horizont verschwand. Ich würde meine Jungfräulichkeit verlieren, während die Bäume ihre Blätter um uns herum verstreuten. Wenn der Winter kam, würde er meine kalten Hände wärmen und mir sagen, wie sehr er mich liebte und dass er mich nie verlassen würde.
    Mein Blick wanderte zehnmal dieselbe alte Speisekarte hinauf und hinunter, ohne ein einziges Wort zu erkennen.
    »So wäre es, ja?«, fragte Luke leise, und ich wusste, dass er dasselbe dachte wie ich.
    Ich nickte. »Das hier wäre unser Stammplatz.« Ich betrachtete ihn, wieder abgelenkt von seiner Nähe und der Dunkelheit vor dem Fenster. Ich konnte diesen Teil von mir spüren – den Teil, der in Luke geschlüpft war, während ich seine Gedanken gelesen hatte. Er war wie elektrisch geladen.
    Er wandte sich mir zu, um mich richtig anzuschauen. »Deine … Gabe. Ist sie nach Sonnenuntergang stärker?«
    Fühlte ich mich deshalb gerade so lebendig? »Ich weiß es nicht. Warum?«
    »Ihre ist am stärksten, während die Sonne untergeht, deshalb dachte ich, bei dir wäre es vielleicht ähnlich.« Luke legte meine Hand auf seine und zog sie zu sich. »Und du strahlstgerade etwas aus, das sich ganz seltsam anfühlt. Als hätte dir jemand frische Batterien eingelegt.«
    Da war er wieder, dieser Vergleich mit der fernen Königin, die ihn zu ihrem Sklaven gemacht hatte – ich war nicht sicher, wie ich das finden sollte. »Gibt
sie
dir auch ein ganz seltsames Gefühl, wenn ihre Macht am stärksten ist?«, fragte ich mit einem Anflug von Frost in der Stimme.
    »Überhaupt nicht. Aber sie und ich, wir haben noch nie unser Gehirn ausgetauscht. Ich bin regelrecht befallen von dir.«
    Ich sah ihn an. Er grinste, und ich gab es schließlich zu. »Ich fühle mich auch komisch. Und ich konnte in letzter Zeit nachts kaum schlafen. Meinst du, das hat etwas damit zu tun?«
    Luke zuckte mit den Schultern. »Klingt plausibel, findest du nicht? Es …« Er unterbrach sich, als die Kellnerin kam, um unsere Bestellung aufzunehmen. Keiner von uns hatte die Speisekarte gelesen, also bestellte ich mein gewohntes Pulled Pork Sandwich für uns beide. Sie eilte in die Küche und konnte es vermutlich kaum erwarten, die letzten Gäste des Abends loszuwerden.
    »Ich möchte, dass du mehr an deiner Gabe arbeitest«, sagte Luke.
    Ich schluckte hastig einen Mund voll Eistee hinunter. »Ich dachte, sie soll nicht merken, was ich kann.«
    Er fuhr langsam fort, als wisse er selbst nicht genau, was er da vorschlug. »Das hatte etwas damit zu tun, was sie mir in diesem Moment angetan hat. Niemand außer ihr sollte die Kontrolle darüber haben. Wenn das Feuer erloschen wäre, hätte sie gewusst, dass du das getan hast. Wenn du deine telekinetischen Fähigkeiten diskreter übst, wird sie nichts davon merken, ehe es zu spät ist.«
    »Zu spät wofür?«
    »Für die Erkenntnis, dass du gelernt hast, dich zu schützen, und dass es klüger wäre, dich in Ruhe zu lassen.«
    Aus irgendeinem Grund konnte ich mir nicht vorstellen, dass ein paar Extrastunden Telekinese großen Einfluss auf meine Sicherheit haben würden. »Glaubst du, dass es so ausgehen könnte?«
    Luke beugte sich vor und streifte meine Wange mit den Lippen. Das Gefühl seines Atems auf meiner Haut war berauschend. »Ich
wünsche
mir, dass es so ausgeht.« Ich schloss die Augen und schmiegte die Wange an seine. Mir fiel auf, dass er seine eigene Sicherheit nicht erwähnt hatte. Wie viel Zeit blieb uns noch zusammen? Wenn die Königin seine Seele tatsächlich in die Hölle schickte, was würde dann mit dem Teil von mir geschehen, der fest mit ihm verbunden war?
    »Lass meinen Motor an«, flüsterte Luke mir ins Ohr.
    Ich riss die Augen auf. »Sag mir bitte, dass ich mich verhört habe.«
    Luke grinste schief. »Ich soll dich belügen?«
    »Den Schlüssel wirst du mir vermutlich nicht geben«, knurrte ich. »Sofern du das wörtlich gemeint hast und nicht als schmutzige Anspielung.«
    Lukes Grinsen wurde noch eine Spur breiter, und er deutete aus dem Fenster. »Ist doch ganz leicht. Das Auto steht sogar direkt in deinem Blickfeld.«
    »Und das findest du diskret? Was wäre dann indiskret? Eleanor zu erwürgen?«
    Er dachte nach.

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