LaNague 03 - Der Staatsfeind
herum und blinzelte in seine Richtung. »Komm her ins Licht, wo ich dich besser anschauen kann.« Peter gehorchte und ging zum Fenster, wo er sich neben ihr auf den Boden niederließ. Sie lächelte und legte den Kopf zuerst nach links, dann nach rechts. »Du bist es also wirklich. Du bist gekommen, um dich von deiner alten Ama zu verabschieden.«
»Nein. Ich wollte dir nur guten Tag sagen. Ich bin auf dem Weg zu den Treuhändern und habe mir überlegt, daß ich dich vorher besuchen könnte. Man hat mir gesagt, du wärst krank gewesen?«
Sie nickte. »Ja, ja.« Sie war sehr gealtert, aber sie hatte sich kaum verändert. Ihr Haar, das inzwischen ganz weiß geworden war, trug sie wie immer in der Mitte gescheitelt und glatt zu beiden Seiten ihres Gesichts heruntergekämmt. Ihr Gesicht war runzlig, der Mund eine bewegliche Spalte und ihr Körper entsetzlich mager und schwach. Aber in ihren Augen leuchtete noch wie früher das Feuer der Vernunft und der unerschütterlichen Integrität, das ihn seine ganze Jugend hindurch begeistert hatte und ihn auch heute noch fesselte und inspirierte.
Er hatte sie in den vergangenen zehn Jahren nur selten gesehen. Als Angehörige der Amae lehrte und erklärte Adrynna die Kyfho-Philosophie, und er war mittlerweile über das Stadium hinausgekommen, wo er nur auf ihren Rat hörte. Er hatte versucht, das, was sie ihn gelehrt hatte, anzubringen. Und doch hatte ein Großteil dessen, was er war und was er je sein würde, seinen Ursprung in den Jahren, die er zu ihren Knien verbracht hatte. Tolive, die Außenwelten, die Menschheit und vor allem Peter LaNague würden um so vieles ärmer sein, wenn sie nicht mehr da war.
»Ach ja, die Treuhänder«, fuhr sie fort und runzelte die Stirn. »Der Rebellionsfonds liegt jetzt in deiner Hand, Peter. Was immer die Treuhänder denken, sagen oder meinen mögen, spielt jetzt, wo die Revolution in Gang gebracht worden ist, keine Rolle mehr. Nur der verantwortliche Mann auf Throne hat jetzt das letzte Wort. Und dieser Mann bist du, Peter. Viele Generationen lang haben zahlreiche Tolivianer ihren Erben keinen Ag hinterlassen, weil sie im Fall ihres Todes ihren gesamten Besitz dem Rebellionsfonds überschrieben haben. Ihre Hoffnungen, ihr Glaube und die Früchte ihres Lebens begleiten dich nach Throne, Peter LaNague.«
»Ich weiß.« Niemand mußte ihm das sagen. Und die Last um dieses Wissen bedrückte ihn jeden Tag aufs neue. »Ich werde sie nicht enttäuschen, Adrynna.«
»Was du und was ich unter ›enttäuschen‹ verstehen, sind zwei völlig verschiedene Dinge. Kennst du das Zitat dieses alten Schriftstellers von der Erde, Conrad, über die Schiffe, die man in den Hafen bringt? Dann weißt du ja sicher auch, daß er dabei nicht Tolive meinen konnte. Unsere Welt fragt nämlich sehr wohl nach den Stürmen, die du überstehen mußtest. Wir fragen nicht nur, ob deine Mission erfolgreich war. Wir werden auch wissen wollen, wie es dir gelungen ist. Wir werden wissen wollen, ob du bei deiner Mission moralische Werte verletzt hast, und die Antwort, die wir dann werden hören wollen, lautet ›Nein‹.«
»Du hast mich all das doch gelehrt. Das müßtest du doch wissen.«
»Ich weiß nur eins«, erwiderte die alte Frau, in deren Stimme eine unbeugsame Überzeugung mitschwang, »und zwar, daß die Revolution in Übereinstimmung mit den Lehren und Grundgedanken des Kyfho durchgeführt werden muß, wenn sie eine wirkliche Bedeutung haben soll. Es darf kein Blutvergießen und keine Gewalt geben, es sei denn zur Verteidigung! Wir müssen es auf unsere Art tun, und nur so! Einen anderen Weg zu beschreiten, hieße, Jahrhunderte der Not und des Kampfes zu verraten. Denk daran: Die Hauptsache: Kyfho. Vergißt du Kyfho bei deinem Bemühen, den Sieg über den Feind zu erringen, dann wirst du selber der Feind … du wirst schlimmer noch als der Feind, denn er weiß es nicht besser.«
»Ich weiß, Adrynna. Ich weiß es nur zu gut.«
»Und hüte dich vor den Flintern. Sie mögen Kyfhoner sein, aber sie folgen einer entarteten Version unserer Philosophie. Sie sind zu eng mit der Gewalt verbunden und könnten übertrieben reagieren. Beobachte sie, so wie wir dich beobachten.«
Er nickte, erhob sich und küßte sie auf die Stirn. Es war nicht gerade ein beruhigender Gedanke, daß sein Handeln so genau überwacht werden würde. Aber es war ihm auch nicht neu – er wußte es, seit die Räder der Revolution in Gang gesetzt worden waren.
Sein nächster Besuch galt den
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