Land der Mythen 01 - Unter dem Erlmond
Geheimnisse und war selbst dabei, als…«
»Und wenn!«, fiel der Herr des Eises seinem Diener ins Wort. »Allein kann er nichts bewirken. Die Sylfen haben die Welt verlassen, und das Geschlecht der Menschen ist schwach. Wie anders wäre es möglich, dass unsere Saat der Zwietracht bereits aufgegangen ist. Waldmenschen und Bergvolk rüsten zum Krieg gegeneinander. Gegenseitig werden sie sich vernichten, sodass deine Erle kaum noch auf Gegenwehr treffen werden. Sei unbesorgt, Kaelor. Unseren Plänen droht keine Gefahr, denn die Menschen haben ihre Wurzeln vergessen. Sie haben sich abgewandt von ihren Mythen und Legenden und leben nur noch im Hier und Jetzt. Ein törichter alter Druide wird daran nichts ändern.«
Da lachte Kaelor boshaft. »Diese Narren! Indem sie ihre Vergangenheit verraten, besiegeln sie ihren Untergang.«
»Und ich, Muortis, werde zurückkehren und ihre Welt in Besitz nehmen. Schnee und Eis wird ihre Täler bedecken, Kälte alles Leben ersticken. Wir stehen am Beginn eines neuen Zeitalters, mein treuer Diener. Die Geschichte der Menschen endet – unsere hingegen hat gerade erst begonnen…«
36
Die Nachricht, was Yvolar der Druide in des Königs Zauberspiegel gesehen hatte, verbreitete sich wie ein Lauffeuer in Glondwarac, und ebenfalls die Kunde, welche Bewandtnis es mit dem Menschenjungen auf sich hatte, der all die Jahre unter den Zwergen gelebt und unter ihnen aufgewachsen war.
Bislang waren nur wenige in das Geheimnis eingeweiht gewesen, doch nun wussten es alle. Und genau wie Yvolar es vorausgesagt hatte, wurde eine Vollversammlung einberufen im ehrwürdigen Hort der Kristalle.
Für Erwyn änderte sich damit alles: Wenn er bislang durch die Stollen der Zwergenfestung gewandelt war, hatte man ihm kaum Beachtung geschenkt. Auf einmal jedoch begegnete man ihm mit bewundernden, wenn nicht ehrfürchtigen Blicken. Bei allem, was er bislang getan hatte, hatte er sich den Zwergen stets unterlegen gefühlt; weder war er kräftig genug für die Arbeit unter Tage, noch war er geschickt im Umgang mit Hammer und Meißel, und er verfügte auch nicht über die Fähigkeit der Zwerge, Edelmetalle und wertvolle Steine durch meterdicken Fels zu wittern. Und während sich die kleinwüchsigen Bewohner des Berges darin gefielen, Schätze anzuhäufen und sie in ihren Kammern zu horten, hatte sich Erwyn stets zu anderen Dingen hingezogen gefühlt, zu Dichtkunst, Musik und Gesang.
Als er noch ein kleiner Junge gewesen war, hatte er stets versucht, den anderen Zwergen ebenbürtig zu sein, und wäre es nur, um seinen Ziehvater nicht zu enttäuschen. Je älter er jedoch wurde, desto deutlicher war ihm aufgegangen, wie hoffnungslos dies war. Erwyn hatte oft darüber nachgesonnen, wo sein Platz in dieser Welt sein mochte. Yvolar hatte ihm geholfen, diesen Platz zu erkennen – und wie sich herausstellte, brauchte Erwyn dafür kein Zwerg zu sein. Im Gegenteil schien alle Welt froh darüber, dass er anders war.
Zum ersten Mal in seinem Leben hatte Erwyn nicht den Eindruck, sich für seine Körpergröße und seine für die Zwerge so sonderbaren Interessen entschuldigen zu müssen. Dieser Gedanke ermutigte ihn – auch wenn er die Gefahren, die vor ihm liegen mochten, nicht einmal ansatzweise erahnen konnte…
»Und du bist sicher, dass du es wirklich tun willst?«, fragte Yvolar ihn noch einmal, der mit ihm durch die Gänge mit den hohen Decken schritt.
»Nein«, antwortete Erwyn wahrheitsgemäß, »aber ich glaube nicht, dass ich mich meiner Verantwortung entziehen kann.«
»Kluge Worte.« Der Druide nickte. »Was hat dich zu dieser Einsicht gebracht?«
»Die Überzeugung, dass sich ein jeder von uns seiner Bestimmung stellen muss.«
»Hm«, machte Yvolar. Er blieb stehen und schaute dem Jungen prüfend in das blasse Gesicht. »Und zu dieser Überzeugung bist du ganz allein gelangt?«
Ein wenig verlegen schüttelte Erwyn den Kopf. »Ein Freund hat mir dabei geholfen.«
»Ein Freund, so so.« Um Yvolars Lippen spielte ein kaum merkliches Lächeln. »Ich verstehe.«
Yvolar und der Junge gingen weiter, dem Kristallhort entgegen, wo die Vollversammlung der Zwerge bereits auf sie wartete. Schon konnte man lautes Stimmengewirr hören, das von der hohen Kuppeldecke widerhallte. Erwyn hatte sich immer gewünscht, vor eine solch große Menge zu treten – allerdings als Sänger und nicht, weil er vom Schicksal dazu ausersehen war, die Welt zu retten. Noch immer hatte er den Eindruck, ein ganz
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