Land der Mythen 01 - Unter dem Erlmond
die abgeschlagenen Häupter der Wächter steckten. Blankes Entsetzen stand in ihren erstarrten Zügen. An den Ästen der umgebenden Bäume hingen die verstümmelten Körper der Alten, der Frauen und der Kinder, denen man teilweise die Gliedmaßen abgehackt hatte und die scheußlich entstellt waren. Krähen flatterten kreischend auf, als sich Galfyns Krieger näherten, um die Leichen abzunehmen und sie dem Feuer zu übergeben, das sie entzündet hatten.
Das Herz des jungen Häuptlings wollte zerbersten vor Schmerz. Auch die beiden Brüder seines Vaters befanden sich unter den Erschlagenen, ebenso wie Galfyns jüngere Geschwister. Wenn Galfyn die Augen schloss, konnte er ihre Gesichter sehen, und er hasste sich, weil er nicht zur Stelle gewesen war, um sie zu beschützen, als der unbekannte grausame Feind über sie hergefallen war, um sie wie Vieh abzuschlachten.
Galfyns Herz schrie nach Rache. Wer immer dies getan hatte, würde dafür bezahlen müssen. Erst wenn er seine Klinge im Blut der Mörder gebadet hatte, würde der Häuptling des Falkenclans wieder Frieden finden.
Seine Krieger schichteten einen Scheiterhaufen auf und entzündeten ihn, um darauf die Toten zu verbrennen, und Galfyn legte im Stillen einen Racheschwur ab. Einen Tag und eine Nacht lang würden er und seine Leute trauern, wie es Sitte war bei ihrem Volk, damit die Ahnen die Geister der Toten zu sich holen konnten. Dann jedoch würden sich Galfyn und die Seinen auf die Suche nach den Mördern machen und erst ruhen, wenn auch der Letzte von ihnen erschlagen war.
Auf sein Schwert gestützt, stand der junge Häuptling da und schaute dabei zu, wie die geschändeten Körper jener Menschen verbrannten, die er so innig geliebt hatte. Die Totenhörner wurden geblasen, während Leichnam um Leichnam den Flammen übergeben wurde. Nach dem Glauben des Waldvolks erwartete den Rechtschaffenen in der Anderswelt Erfüllung, wohingegen Dieben und Mördern das ewige Verderben zuteil wurde. In dieses Verderben wollte Galfyn jene schicken, die dieses furchtbare Massaker angerichtet hatten.
Die Rauchsäule, die vom Feuer aufstieg, verfinsterte den Himmel wie ein dunkles Vorzeichen. Tod und Vernichtung würden über die Täter hereinbrechen.
Leise trat jemand zu Galfyn. Der brauchte den Blick nicht von den brennenden Leichen zu lösen – er wusste, dass es kein anderer als Herras war, sein Oheim und Waffenmeister, der ihm als Lehrer und Berater zur Seite stand.
Seit dem Tod seiner Eltern war er Galfyn Vater und Lehrmeister zugleich, von Herras hatte er gelernt, Schwert und Bogen zu gebrauchen, und er war es auch gewesen, der ihn auf seine Aufgabe als Häuptling vorbereitet hatte. Da Galfyn das Mal des Falken trug, hatte von seiner Geburt an festgestanden, dass er einst die Geschicke des Stammes lenken würde.
Doch ein Teil dieses Stammes existierte nicht mehr…
»Woran denkst du, Junge?«, fragte Herras leise.
»Woran denkt ein Krieger, dem alles genommen wurde, was er liebte?«, fragte Galfyn zurück. »Für jeden Toten, der in diesem Feuer brennt, will ich zwei Feinde töten.«
»Rache ist die Pflicht des Kriegers«, stimmte Herras zu, »aber sie kann auch ins Verderben führen.«
Galfyn wandte den Kopf und schaute seinen Lehrer überrascht an. »Es wundert mich, diese Worte von dir zu hören. Warst du es nicht, der mich gelehrt hat, dass man das Unrecht stets bekämpfen muss? Unser Dorf wurde heimtückisch überfallen, während die Männer auf der Jagd waren. Frauen, Kinder und Alte wurden grausam abgeschlachtet. Kann es größeres Unrecht geben?«
»Nein«, stimmte Herras ihm zu, »aber nicht die Toten, sondern die Lebenden haben dich zu ihrem Häuptling erkoren, Galfyn. Ihnen hat deine Sorge zu gelten.«
»Du sprichst in Rätseln, Oheim. Ist es nicht meine heilige Pflicht, den Pfad der Rache zu beschreiten?«
»Es kommt darauf an, wohin er dich führt, mein Junge.«
»Wohin wohl?«, entgegnete Galfyn bitter. »Er kann uns nur zu den Schlangen führen, unseren Feinden von alters her.«
»Bist du sicher? Die Krieger des Schlangenclans sind unsere Feinde, das ist wahr. Aber nie zuvor haben sie so grausam gehandelt. Von Zeit zu Zeit gehen sie auf Beutezug. Sie stehlen unsere Pferde und unsere Vorräte, so wie wir die ihren, und hin und wieder kommt es dabei zu Auseinandersetzungen. Dann kämpfen wir um den Lohn der Ehre und nehmen Gefangene, die wir gegen Lösegeld wieder freilassen. Aber eine Barbarei wie diese ist nicht die Art des Schlangenclans.
Weitere Kostenlose Bücher