Land der Mythen 01 - Unter dem Erlmond
Berge um ihre Majestät beneiden. Denn natürlich sind die Berge vor dem Wasser da gewesen, das weiß jedes Kind!«
»So? Glaubst du?« Yvolar schaute ihn an. »Dann lass dir sagen, Wildfänger, dass einst die ganze Welt von Wasser bedeckt war. Aus ihm ging alles Leben hervor, als der Schöpfergeist den Landmassen befahl, sich zu erheben. So entstanden Allagáin und das Wildgebirge, aber auch die Wälder und Flüsse des Nordens. Lebende Kreaturen bevölkerten das Land, aber mit ihnen kam auch die Sünde. Habgier und Stolz ließen das Böse gedeihen, und so konnte sich Muortis, der Herr des Eises, erheben. Sein Heer aus Erlen und Trollen, aus Drachen und Riesen überrannte die Welt der Sterblichen, und eine Zeit der Finsternis brach an, in der Kälte das Land überzog und das Grundmeer erstarrte.
Versklavt unter dem Joch des Bösen lag die Welt, viele Jahrhunderte lang – bis die Sylfen erschienen. Von den Gipfeln der Berge stiegen Vanis’ Söhne herab und boten dem Bösen die Stirn. Unter Danaóns Führung trotzten sie Muortis und seinen Dienern, und der Krieg zwischen den Mächten des Lichts und der Finsternis begann. Lange Jahre dauerte er und obwohl sie tapfer kämpften, drohten die Sylfen und ihre Verbündeten zu unterliegen – bis es ihnen in der schicksalhaften Schlacht auf dem Korin Nifol gelang, den entscheidenden Sieg zu erringen.
Der Brunnen warnte sie, indem sein Wasser auf einmal zu Blut wurde. Und vor wenigen Tagen geschah dies erneut – wieder plätschert Blut statt Wasser im Brunnen.«
»Ich verstehe«, sagte Leffel ehrfürchtig.
»Nach ihrem Sieg«, fuhr Yvolar fort, »haben die Sylfen ein Zeitalter lang über die Menschen gewacht. Sie haben ihnen gezeigt, wie man Felder bestellt und befestigte Städte baut, damit sie eines Tages selbst die Herrschaft über das Land antreten konnten. Und als die Erben Vanis’ nach vielen Menschenaltern fühlten, dass ihre Zeit zu Ende ging, da kehrten sie zurück ins ferne Reich Ventar, von wo sie einst gekommen waren. Díuran aber, einen jungen Prinzen aus Allagáin, wählten sie aus, König zu sein und über Berge und Täler zu herrschen. Er begleitete die Sylfen nach Süden, wo sie ihn krönten und ihm Maiwyn zur Frau gaben, eine Dame von vornehmer Abstammung. Mit ihr begründete Díuran das Geschlecht von Iónador, dessen Könige das Land mit Hilfe der Druiden weise und gerecht regierten.
So brach das silberne Zeitalter an, in dem die Menschen das Erbe der Sylfen würdig vertraten. Aber der Glanz der Vergangenheit verblasste, und mit jeder Generation erinnerten sich die Menschen weniger an das, was Vanis’ Söhne und Töchter für sie getan hatten. Das Schicksal der Welt wurde ihnen gleichgültig, dafür wuchs ihre Gier nach Macht und Besitz. Sie entzweiten sich untereinander, und das Volk Díurans zerfiel in verfeindete Stämme – das Waldvolk und das Bergvolk. Schon bald begannen sie, blutige Kriege gegeneinander zu führen, und das silberne Zeitalter ging zu Ende. Der Stolz der Könige versank in Strömen von Blut, und die Zeit der Fürstregenten brach an, die bis heute währt.«
Die Worte des Druiden verklangen, und betretene Stille senkte sich über den Garten, in der nur das hässliche Plätschern des Blutbrunnens zu hören war.
»Das wusste ich nicht«, flüsterte Rionna schließlich. »Ich meine, ich kannte diese und jene Geschichte, aber mir war nicht klar, wie alles zusammenhängt.«
»Nun weißt du es«, sagte Yvolar gepresst. »Der Schöpfergeist hat den Sterblichen die Freiheit gegeben, sich zwischen Gut und Böse zu entscheiden – leider wählen sie nur allzu oft den falschen Pfad. So wie dein Onkel…«
»Das ist nicht wahr!«, widersprach die Prinzessin entschieden. »Klaigon hat nur das Wohl seines Volkes im Blick. Seine Wege mögen bisweilen seltsam erscheinen, aber…«
»Was sind das für Wege, die Mord und Intrige einschließen?«, fiel der Druide ihr mit sanfter Stimme ins Wort. »Ich will es dir sagen, mein Kind: Es ist der Weg in die Dunkelheit. Klaigons Absichten mögen lauter sein, seine Taten sind es nicht. Die Menschen sind dem Unrecht gegenüber gleichgültig geworden und gedenken nicht mehr der Opfer, die einst gebracht wurden. Deshalb ist das Böse wieder erwacht. Die Kälte ist wieder auf dem Vormarsch.
Sie sorgt für einen frühen Winter und treibt die Erle aus ihren Verstecken. Wer könnte ihnen Einhalt gebieten, nun, da die Erben Vanis’ die Welt verlassen haben?«
»Das wollten wir eigentlich von dir
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