Land der Mythen 01 - Unter dem Erlmond
verlassen, was für sie, die es liebte, sich unter das Volk zu mischen und über die Märkte der Stadt zu bummeln, einer Kerkerhaft gleichkam.
Während der neue Tag über Allagáin heraufzog und die Hügel im Nordosten rosa färbte, fragte sie sich zum ungezählten Mal, ob es ein Fehler gewesen war, nach Iónador zurückzukehren. Yvolar hatte sie ausdrücklich davor gewarnt, und auch Alphart hatte ihr davon abgeraten. Rionna hatte ihren Willen dennoch durchgesetzt, aber inzwischen bezweifelte sie, dass es die richtige Entscheidung gewesen war…
»So schwermütig, mein Kind?«, fragte eine sanfte Stimme hinter ihr. Sie gehörte Calma, der Zofe der Prinzessin. »Wie ist das möglich? Der Tag ist noch jung und voller Hoffnung!«
Unwillkürlich musste Rionna lächeln. Sie wandte sich um und blickte in die gütigen Züge ihrer Zofe, die ihr das Morgenmahl brachte. »Esst etwas, Herrin«, forderte Calma sie auf. »Ihr werdet erkennen, dass die Welt um vieles besser aussieht, wenn Ihr sie mit einem vollen Magen betrachtet.«
»Lieb von dir, aber ich habe keinen Hunger.«
»Ihr müsst etwas essen, Herrin«, beharrte die Zofe. »Schon seit Tagen steht ihr nur am Fenster und starrt hinaus. Wie lange soll das noch so weitergehen?«
»Es tut mir leid.« Rionna schüttelte den Kopf. »Mehr und mehr habe ich den Eindruck, dass die Dinge in Iónador nicht so sind, wie sie sein sollten.«
Calma stellte den Milchkrug und den Teller mit Brot auf den kleinen Nachttisch. »Was meint Ihr damit, Herrin?«, erkundigte sie sich dann vorsichtig und mit gedämpfter Stimme.
»Ich meine damit, dass mein Onkel seltsame Dinge sagte, als ich nach Iónador zurückkehrte. Er sprach davon, dass sich das Böse auf verschlungenen Pfaden nähert, und machte noch andere merkwürdige Andeutungen.«
»Und das macht Euch Angst?«
»Ein wenig«, gab Rionna zu. »Du hättest dabei sein müssen, Calma. Mein Onkel schien nicht er selbst zu sein, als er dies sagte. Er hatte diesen seltsamen Glanz in den Augen, fast als ob…«
»Ja?«, hakte die Zofe nach, als ihre Herrin zögerte.
Rionna schüttelte resignierend den Kopf. Zum einen vermochte sie ihre widersprüchlichen Gefühle nicht in Worte zu kleiden, zum anderen kam sie sich vor wie eine Verräterin, so über ihren Oheim zu sprechen, der zugleich der Fürstregent war.
Müsste sie als treue Tochter Iónadors nicht bedingungslos auf seiner Seite stehen? Konnte man von des Fürstregenten Nichte nicht mehr Loyalität erwarten? War es nicht ihre Pflicht, ihn angesichts des drohenden Krieges gegen das Waldvolk vorbehaltlos zu unterstützen, ganz egal, was sie sonst trennen mochte?
Ein Teil von ihr bejahte all diese Fragen – aber da war auch noch jener andere Teil, der von Zweifel geplagt wurde.
Irgendetwas stimmte nicht in Iónador, davon war Rionna überzeugt. Die Frage war nur, was im Verborgenen vor sich ging.
»Ich will Euch etwas berichten, Herrin«, sagte Calma leise. »Etwas, worüber ich noch mit niemandem gesprochen habe.«
»Was ist es?«
»Ihr müsst mir versprechen, dass Ihr zu niemandem darüber ein Wort verliert.«
»Warum nicht?«
»Weil das, was ich Euch sage, gefährlich sein könnte«, antwortete Calma, die sich sichtlich unwohl fühlte. »Wollt Ihr mir versprechen, dass jedes Wort, das ich Euch anvertraue, unter uns bleibt?«
»Ich verspreche es«, versicherte Rionna.
»Nun gut…« Argwöhnisch schaute sich die Zofe um, als vermutete sie Spione in den Gemächern der Prinzessin. »Vor einigen Nächten«, flüsterte sie dann, »kurz nachdem Ihr Iónador verlassen hattet, wurde ich von eigenartigen Geräuschen geweckt.«
»Von eigenartigen Geräuschen?« Rionna hob die schmalen Brauen.
»Es war ein merkwürdiges Rasseln und Poltern, das ich mir nicht erklären konnte. Ich trat ans Fenster meiner Kammer, die – wie Ihr ja wisst – recht tief im Turm gelegen ist, und warf einen Blick hinaus. Und auf dem Turmplatz sah ich – sie.«
»Wen?«
»Schatten«, antwortete die Zofe schaudernd. »Verzeiht mir, wenn ich kein besseres Wort dafür finde, Herrin, aber ich bin eine einfache Frau und kann nur sagen, was ich gesehen habe: dunkle Schatten. Sie zogen schwer beladene Fuhrwerke, von denen das Rumpeln stammte, das ich hörte.«
»Schwer beladen?«, fragte Rionna. »Womit?«
»Mit Waffen, Herrin«, hauchte Calma so leise, dass ihre Stimme kaum noch zu hören war. »Ich sah sie Schwerter und Äxte abladen, dazu Schilde, Helme und Rüstungen. Das alles trugen sie in den
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