Land der Mythen 01 - Unter dem Erlmond
sondern ein Zahn. Der messerscharfe Zahn einer Kreatur, die riesig groß sein musste…
»Etwas ist dort draußen«, sagte Gaétan schaudernd und zog den Umhang enger um seine Schultern. »Etwas, das die Fische aus diesem Teil des Sees vertrieben hat. Das in der Tiefe lauert und nur darauf wartet, dass sich unsere Fischer wieder hinausbegeben. Und das macht mir Angst.«
»Ich verstehe«, sagte Yvolar nur.
Der Druide hatte etwas Ähnliches vermutet, jedoch erschütterte es ihn zu hören, dass das Böse bereits so weit vorgedrungen war. Des Rätsels Lösung war so einfach wie bestürzend – eine Kreatur der Tiefe bedrohte die Stadt…
»Du widersprichst mir nicht?«, fragte Gaétan.
»Warum sollte ich?«
»Vielleicht, weil du an meinen Worten zweifelst. Jeder vernünftige Mensch würde das tun.«
»Mein Freund«, sagte Yvolar, »du solltest mich lange genug kennen, um zu wissen, dass ich weder ein Mensch bin noch vernünftig. In den Tiefen des Grundmeers hausen Wesen, die älter sind als alles, was wir kennen. Mich beschäftigt allerdings die Frage, was eine dieser Kreaturen an die Oberfläche getrieben haben mag.«
»Bist du deswegen gekommen?«
»Unter anderem.«
»Und bist du mir böse?«
»Weshalb sollte ich dir böse sein, Freund?«, fragte der Druide verwundert.
»Weil ich dir nicht gleich die Wahrheit sagte.«
»Du hast sie mir jetzt gesagt, das genügt. Außerdem ändert es nichts an meinem Entschluss.«
»Du willst noch immer über den See? Nach allem, was ich dir erzählt habe?«
»Jetzt noch mehr als zuvor«, versicherte der Druide.
»Aber…«
»Wir haben keine andere Wahl«, stellte Yvolar klar. »Meine Gefährten und ich müssen das Südufer erreichen, und der Landweg ist uns verwehrt.«
»Ihr habt Feinde?«
»In der Tat – und sie sind ebenso gefährlich wie grausam. Deshalb brauche ich das Boot, mein alter Freund.«
»Und wenn die Kreatur aus der Tiefe euch angreift?«
Yvolar lächelte und deutete zuversichtlich auf seinen Stab. »Dann lass sie nur kommen. Ich bin nicht ganz wehrlos, wie du weißt.«
»Das ist wahr.« Der Bürgermeister nickte nachdenklich. »Wann wollt ihr aufbrechen?«
»Bei Tagesanbruch.«
»So werde ich euch einen Nachen zur Verfügung stellen und vier Ruderer, damit ihr rasch ans Südufer gelangt.«
»Ich will nicht, dass sich deine Leute unsertwegen in Gefahr begeben, Gaétan«, widersprach der Druide. »Gib uns nur ein Boot, für alles andere werden wir selbst sorgen.«
»Das kommt nicht infrage. Du hast uns vor einer verheerenden Hungersnot bewahrt, Yvolar Zauberhand. Das Volk von Seestadt schuldet dir Dank. Wir werden dich ans andere Ufer bringen, welche Gefahren unterwegs auch lauern mögen.«
»In diesem Fall«, sagte Yvolar und lächelte Gaétan zu, »nehme ich dein Angebot dankbar an.«
»Wir haben zu danken«, entgegnete der Bürgermeister. Dann fragte er: »Willst du mir etwas erzählen über die Mission, auf der du dich befindest?«
»Nein.« Yvolar schüttelte das kahle Haupt. »Je weniger du und deine Leute darüber wissen, desto besser ist es für euch. Aber seht euch vor. Haltet das Stadttor geschlossen und verdoppelt die Wachen. Seid auf einen Angriff gefasst, durch wen auch immer.«
Der Bürgermeister wandte den Kopf und blickte hinaus auf den See, auf dessen Wasser das Mondlicht glitzerte. »Dies ist kein gewöhnliches Jahr, nicht wahr? Der Winter kommt früh, und unheimliche Dinge gehen vor im Land.«
»Ja«, stimmte Yvolar grimmig zu. »Unheimliche Dinge…«
29
»Nun, Marschall? Was sagst du?«
Barand von Falkenstein war unfähig, auch nur ein Wort zu erwidern. Er war geradezu überwältigt von der kriegerischen Pracht, die sich im Fackelschein vor ihm ausbreitete, war geblendet vom Anblick des blitzenden Stahls, und sein Soldatenherz vollführte Freudensprünge bei dem, was sich seinen Augen darbot. Fürwahr, Klaigon hatte nicht zu viel versprochen – die Waffenkammern Iónadors waren zum Bersten gefüllt.
Noch nie zuvor war Barand so tief in den unterirdischen Gewölben des Túrin Mar gewesen. Über eine Unzahl von Stiegen und Treppen hatte Klaigon ihn hinuntergeführt in die dunklen Katakomben der Festung, bis sie vor eine eiserne Tür gelangten, die das Wappen Iónadors zierte. Zwei Soldaten, deren Gesichter blass und ausgemergelt waren vom langen Dienst unter Tage, hatten die eiserne Pforte bewacht, auf deren anderer Seite Barand die größte Waffensammlung vorfand, die seine Augen je erblickt
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