Land der Mythen 02 - Die Flamme der Sylfen
darüber echte Bestürzung zu empfinden – sie alle merkten, dass das Eis, auf dem sie standen, sich löste und mit lautem Knirschen talwärts rutschte, den steilen Südosthang hinab.
Nur nebenbei bemerkte Leffel, dass der Ton des Sylfenhorns verklungen war – seine vernichtende Wirkung jedoch dauerte an.
Der gesamte Berghang schien in Bewegung zu geraten. Bruchstücke des Gletschers verselbstständigten sich und polterten tosend zu Tal, Lawinen von Eis und Schnee mitreißend. Mit vor Schrecken weit aufgerissenen Augen, starrte Leffel zum Gipfel hinauf und sah die weißen Massen, die sich von dort herabwälzten, geradewegs auf die drei Gefährten zu. Und jäh dämmerte dem Gilg, weshalb Danaón an jenem schicksalhaften Tag sein Leben auf dem Korin Nifol gelassen hatte – und weshalb man kaum genug von ihm gefunden hatte, um einen Sarkophag damit zu füllen!
»Verdammt, worauf wartet ihr elenden Grünschnäbel!«, drang plötzlich eine raue Stimme zu ihnen herauf, die sich über das Bersten und Tosen hinweg Gehör verschaffte. »Lauft gefälligst um euer Leben, ihr Trottel!«
Leffel fuhr herum und erblickte zu seiner Erleichterung Alphart, der auf seinem Weg ins Tal wieder umgekehrt war. Über bebenden, unsicheren Grund stapfte der Wildfänger den Hang herauf, seinen drei Schützlingen entgegen, und seine resoluten Worte rissen die Gefährten aus ihrer Lethargie.
»Lauft! Lauft!«, schrie da auch Leffel, den Blick auf die Lawine gerichtet, die lärmend zu Tal donnerte und sie alle unter sich begraben würde – vorausgesetzt, sie wurden nicht vorher von einer sich plötzlich öffnenden Gletscherspalte verschluckt.
Mit einem weiten Satz hüpfte Mux auf Leffels Schulter, und indem er Erwyn am Arm packte und ihn mitzog, begann der Gilg zu laufen, schneller als je zuvor in seinem Leben.
So schnell ihre müden Beine, ihr Gepäck und die schweren Umhänge aus Fell es zuließen, rannten sie, sprangen von der Scholle, die sich inzwischen ganz gelöst hatte und zu Tal rumpeln wollte. Hart landeten sie im Schnee, überschlugen sich und rollten direkt vor die Füße des Wildfängers. Alphart verlor keine Zeit. Sie mit wüsten Verwünschungen überhäufend, die nur seine eigene Furcht und Sorge verbergen sollten, packte er seine Kameraden und riss sie auf die Beine.
»Lauft um euer Leben!«, brüllte er ihnen erneut über das Donnergrollen der Lawine hinweg zu, und so schnell sie konnten, hasteten sie den Hang hinab.
Aufrecht hielten sie sich dabei nur auf den ersten Schritten. Denn erschöpft und ausgezehrt, wie sie waren, brachen ihre Beine unter ihnen ein. Taumelnd, fallend und sich wild überschlagend, purzelten sie den Hang hinab, noch immer verfolgt von den in Bewegung geratenen Schneemassen, die sie verfolgten. Immer wieder blickte Leffel zurück, sah die weiße Bestie, die stetig aufholte und sie in Kürze verschlingen würde…
Plötzlich war die wilde Flucht der Gefährten zu Ende.
Sie hatten den Fuß des Abhangs erreicht, und die tiefen Schneeverwehungen dort bremsten ihre Flucht, erschwerten das Vorwärtskommen und machten es schließlich unmöglich; bis zu den Hüften sanken sie ein, während sie dennoch versuchten voranzukommen und schließlich aufgeben mussten.
Alphart, dem noch am meisten Kraft verblieben war, kämpfte sich verbissen noch ein Stück weiter, ehe auch er einsehen musste, dass es kein Entkommen mehr gab. Sie saßen fest, und die Lawine würde sie in wenigen Augenblicken eingeholt haben!
Nur Mux sank nicht im tiefen Schnee ein, sondern wandelte leichtfüßig über dessen Oberfläche. Doch er lief nicht davon, war stehen geblieben und starrte Alphart erschrocken an.
»Lauf, Kobling, lauf!«, rief dieser. »Versuch wenigstens du zu entkommen!«
Aber Mux schüttelte trotzig den Kopf. Er wollte seine Gefährten nicht in Stich lassen – selbst wenn es ihn das Leben kostete. Er hüpfte auf Alphart zu und klammerte sich an seinem Arm fest.
Erwyn und Leffel, die sich dicht beieinander befanden und bis zu den Hüften im Schnee feststeckten, nahmen sich bei den Händen, während die Berge rings um sie bebten und die Welt um sie herum unterzugehen schien.
Alphart kehrte zu ihnen zurück, Mux auf der Schulter, und reichte den beiden Gefährten, mit denen er so vieles durchlebt und durchlitten hatte, die Hände.
Dem Horn Danaóns einen Ton zu entlocken war ihnen schließlich doch noch geglückt. Aber die Macht, die der Herrschaft des Eises ein Ende setzte, sollte auch ihren Untergang
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