Land der Schatten - Andrews, I: Land der Schatten
Und als Zivilistin war sie tabu. Solange sie nicht auf ihn losging und damit zur Gegnerin wurde, gab es für ihn keinen Grund, sie als solche zu behandeln.
Er wollte, dass sie ihn mochte. Das taten nicht viele Frauen, nicht mal im Broken. Sie schienen zu spüren, dass mit ihm etwas nicht stimmte, und machten deshalb einen Bogen um ihn.
Was er brauchte, war ein Zugang zu ihrer Familie, damit er herausfand, warum Spider sich mit ihr angelegt hatte. Cerise war der Schlüssel. Er musste sie dazu bringen, dass sie ihn mochte oder ihn zumindest für so nützlich hielt, dass sie ihn mitnahm. Dazu musste er wie ein Mensch denken und sich listig verhalten.
Schläue gehörte nicht gerade zu seinen Stärken. Katzen waren schlau. Füchse auch. Aber er war ein Wolf. Er nahm sich, was er wollte, und wenn das nicht ging, wartete er ab, bis sich ihm die Gelegenheit dazu bot. Sie hatte gesagt, sie wolle Sicktree bis zum Abend des folgenden Tages erreichen. Damit wurde sein Zeitfenster immer schmaler. Die Zeit lief ihm davon.
William sah sie noch einmal an und kehrte dann ins Wohnzimmer zurück. Er nahm die Kissen vom Sofa, improvisierte eine Pritsche auf dem Fußboden und legte sich quer vor die Tür. Der Spiegel hatte einen Mann in Sicktree. Zeke Wallace. Nach außen hin gab er sich als Lederhändler und Tierpräparator aus. Inoffiziell arbeitete er für Adrianglia und betätigte sich in seiner Freizeit als Schmuggler. Laut Erwin würde Zeke ihn mit den frischesten Erkenntnissen über Spider ausstatten: wo er und seine Leute gesehen worden waren, wen sie im Moor kontaktiert hatten und so weiter. Zeke konnte ihm auch dabei helfen, Cerise zu identifizieren, aber das war’s auch schon. Der Rest lag an ihm.
Denk nach. Du bist auch ein Mensch, also denk nach .
Er versuchte immer noch, sich etwas einfallen zu lassen, als ihn der Schlaf übermannte.
Das Geräusch leiser Schritte drang in Williams Schlaf. Er öffnete die Augen gerade noch rechtzeitig, um Cerises bloße Knöchel nach draußen huschen zu sehen.
Sie lief ihm davon. Glaub ich nicht .
William folgte ihr nach draußen. Der düstere See lag still unter einem verdrießlichen grauen Himmel. Cerise watete vom Bootssteg hinab knietief ins Wasser; sie trug immer noch das lange T-Shirt. Er ging ihr nach, bewegte sich lautlos durchs Gras zum Bootssteg, trottete über die Holzbohlen, bis er ihr Gesicht erkennen konnte. Ihre Augen waren geschlossen. Sie reckte ihr Kinn dem trostlosen Himmel entgegen und stand mit leicht abgespreizten Armen da, als wollte sie jemanden willkommen heißen.
Wie ein glänzender Wasserfall fiel ihr das Haar über die Schulter. Ihre Miene verriet Trauer.
William ließ sich am Rand des Bootsstegs nieder. Was zum Teufel tat sie da?
Cerise atmete die Morgenluft ein. Sie hatte miserabel geschlafen. Einmal war sie aufgewacht, weil sie geträumt hatte, sie wären nach Sicktree gekommen und Urow wäre tot. Als Nächstes hatte sie geträumt, das Haus würde angegriffen. Der äußerst lebendige Traum hatte dazu geführt, dass sie aufgestanden und aus ihrem Zimmer gelaufen war. Von dort aus konnte sie das Esszimmer und das Wohnzimmer sehen, beide dunkel, und William, der vor der Tür schlief und Eindringlingen den Weg versperrte. Im Schlaf war die Härte von dem Blaublütigen abgefallen. Er wirkte ruhig und friedlich. Sein Anblick beruhigte sie, und sie ging wieder schlafen.
Jetzt war es Morgen, sie war wach, aber die Besorgnis wollte nicht weichen. Sie saß ihr im Genick und setzte ihr zu. Die Verantwortung für ihre ganze Familie lastete auf ihren Schultern und zog sie runter wie ein Anker, so schwer, dass sie sich fragte, ob sie wohl absaufen würde, wenn sie in den See eintauchte.
Das Leben war so viel einfacher gewesen, als sie lediglich die Anordnungen ihres Vaters hatte befolgen müssen. So viel einfacher. Sie vermisste ihn und ihre Mutter so sehr, dass es wehtat. Wenn sie sie nicht fand, würde ihre Familie zerbrechen. Und Lark … Sie wollte nicht mal daran denken, was das für Lark bedeutete.
Ich werde nicht untergehen, sondern mich über Wasser halten .
Cerise holte tief Luft und ließ sich sanft in das kalte Wasser gleiten. Sie streckte sich, wobei ihr langes Haar sie wie ein sanfter Schleier umfloss. Sie hatte das schon als kleines Mädchen getan. Das Wasser ließ sie nie im Stich und beruhigte sie.
Fehler waren nicht ausgeschlossen. Der Kniff bestand darin, die Risiken zu akzeptieren und es drauf ankommen zu lassen.
Das Wasser umspielte sie
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