Land der Schatten - Andrews, I: Land der Schatten
Chad, der entschlossen abtrat. Lagar ging vor den Spuren in die Hocke, spreizte die Hände und maß den Abstand zwischen den Kratzern. Die Vorderpranken hatten einen Durchmesser von fast fünfundzwanzig Zentimetern. Lagar schob sich ins Dickicht. Da waren sie, die Vertiefungen, die anzeigten, wo ein Tier auf der Lauer gelegen hatte. Er drehte sich nach den Krallenspuren um. Sechseinhalb Meter.
Er berührte die Ränder der Abdrücke und versenkte die Finger in der Vertiefung, um Maß zu nehmen. Runde, dicke Glieder. Wenn es sich um eine Katze handelte, dann um ein Männchen, drei, vier Meter lang und etwa dreihundertfünfzig Kilo schwer. Er hatte Mühe, sich ein Tier dieser Größe vorzustellen. War das etwas aus dem Weird? Aber warum kam es dann hierher?
Lagar verließ das Dickicht und fuhr mit der Stiefelsohle über die Krallenspuren, bis nur noch feuchter Morast zu erkennen war. Nichts konnte er jetzt so wenig brauchen wie Panik.
Bevor er zur Veranda kam, blieb er dort stehen, wo der Morast vor zwei Wochen von zahlreichen Füßen aufgewühlt worden war. Der Regen hatte die Spuren ausgelöscht. Gustave war hierhergebracht worden. Er hatte um seine Freiheit, um seine Frau gekämpft und verloren.
Lagar zupfte an einer losen Haarsträhne und dachte daran, wie Gustave geguckt hatte, als das von der Magie der Hand erzeugte Netz ihm schließlich das Schwert entwand. Gustaves ohnmächtige Wut war ein herrlicher Anblick gewesen, für den sie jedoch mit dem Leben von vier Männern bezahlt hatten.
Vier Männer, die für ihn gearbeitet hatten und deren Familien er kannte. Ihren Frauen hatte er für ihre toten Männer Geld gegeben. Beim Blick von Emilia Cook, als er ihr ihren Anteil zusteckte, hätte er sich am liebsten eigenhändig ertränkt. Als sei er der Abschaum der Erde.
Ein schräger Gedanke tanzte in seinem Kopf: Verschwinden, das Herrenhaus vergessen, das Moor verlassen und woandershin gehen, wo einen niemand kannte. Er war doch nicht mal achtundzwanzig.
Lagar zog die Schultern hoch. An seinen Mundwinkeln zupfte ein sardonisches Grinsen. Er hatte für dieses falsche Juwel schon zu viel hingeblättert. Wie ein Läufer, der für einen Wettlauf alles gegeben hatte, war er ans Ziel gelangt und stellte nun fest, dass er einfach nicht aufhören konnte zu laufen.
Das Geräusch eines Pferdes im vollen Galopp schreckte ihn auf. Er lief rechtzeitig zur Veranda, um zu sehen, wie Arig auf einem grauen Wallach an ihm vorbeistürmte.
»Lagar!«
Unfähig, das Pferd zum Stehen zu bringen, umkreiste sein Bruder das Haus, wurde langsamer und sprang schließlich keuchend und mit rotem Gesicht aus dem Sattel.
»Was?«
»Mom sagt, du sollst raus in den Sumpf. Es ist was mit Peva.«
William saß im Bug, so weit weg von der Leiche des Jägers, wie die Ausmaße des Bootes es zuließen. Weshalb Cerise darauf bestand, den Toten mitzunehmen, überstieg sein Begriffsvermögen. Er hatte sie danach gefragt, aber sie hatte nur gelächelt und irgendetwas über ein Geschenk für ihre Tante gesagt.
Womöglich war ihre Tante eine Menschenfresserin.
Das Rolpie zog mit gleichmäßiger Kraft. Der nebelschwere Sumpf besaß eine ruhige, fast strenge Schönheit, eine Art düstere, urtümliche Anmut. Der Dunst verschleierte die chaotische Vegetation, filterte sie zu vereinzelten Pflanzengruppen. Mit Haarfarnmoos geschmückte Zypressenhaine zogen aus dem Nebel herauf und verschwanden wieder darin, während das Boot sie langsam passierte. Das Wasser glich Quecksilber, eine glänzende, stark reflektierende Oberfläche, unter der sich stockfinstere Abgründe verbargen.
»Ist es hier sehr tief?«, fragte William.
»Nein. Das macht der Torf auf dem Grund.«
Leicht wie eine Feder streifte ihn Magie. »Was ist das?«
Cerise lächelte. »Ein Zeichen. Wir sind auf dem Gebiet meiner Familie und nähern uns dem Haus. Wir haben das Gebäude und einen Teil des Landes drum herum mit Wehren belegt. Gute, tief in der Erde verwurzelte, alte Wehre. Allerdings nicht allzu weitreichend.«
Er blinzelte Richtung Ufer. Am Wasser lag ein großer, grauer Stein, ungefähr sechzig Zentimeter hoch und dreißig Zentimeter breit. Ein identischer heller Stein lag auf halbem Weg im Wasser. Wehrsteine. Er hatte solche Steine schon mal gesehen: Magie verband sie wie Pilze in einem Pilzring und schuf eine Barriere. Selbst Rose hatte Wehrsteine verwendet, um ihr Haus und die Jungs zu beschützen. Ihre Wehrsteine waren winzig, wurden aber mit der Zeit größer. Diese hier
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