Land der Schatten - Andrews, I: Land der Schatten
Hüften. »Und renn mir jetzt nicht weg, Emel Mar! Ich bin noch nicht mit dir fertig!«
Der Nekromant raffte seinen Mantel, begann zu laufen und entkam durch die Tür. Großmutter Az schwang den Arm herum und stupste William gegen die Schulter. »Hat man schon mal so ein Kind erlebt? Na, da bleibt einem glatt die Spucke weg. Und dabei war er so ein süßes Baby.«
Lagar zog das Boot ans Ufer, warf die Zügel um eine Zypresse und betrat das feuchte Gras. Vor ihm raschelte ein Farnmeer.
»Peva?«
Keine Antwort. Er drang in den Farn ein und entdeckte eine Fährte aus umgeknickten Stängeln, die von einer Kiefer ausging. Zwischen den Wurzeln lag ein kleiner Beutel Studentenfutter, die Nüsse und Rosinen auf der Erde verstreut, darüber starrte ihn aus dem Kiefernstamm ein kreisrunder, schwarzer Fleck an, wie ihn Leuchtpfeile hinterließen.
Peva verwendete keine Leuchtbolzen. Sofort sträubten sich Lagar die Nackenhaare.
Mit einer flüssigen Bewegung zog er sein Schwert aus der Scheide und suchte den Boden ab.
Ein Zwillingseinschuss mit zwei Wunden im Erdreich kennzeichnete die Stelle vor den Kiefernwurzeln. Jemand hatte auf seinen Bruder geschossen und seine Geschosse anschließend wieder eingesammelt. Es sei denn, Peva hatte sie selbst genommen.
Lagar lief zum Rand des Farnfelds. Dort lagen abgebrochene Stängel. Sein Blick blieb an einem Bolzen in einer Zypresse hängen. Den Schaft markierte ein grünes Schriftzeichen. Also gehörte der Bolzen Peva. Zu tief für irgendein Ziel. Und wenn Peva zielte, traf er immer. Mit diesem Schuss hatte er jemanden von sich ablenken wollen. Lagar ging in die Hocke und deutete mit der Schwertspitze in die Richtung des Bolzens, dann drehte er sich in die andere Richtung. In sieben, acht Metern Entfernung verstellte ihm eine große Zypresse die Sicht. Er lief hin und umkreiste den gedunsenen Stamm …
Peva lag auf dem Rücken. Die blaue Färbung der blutleeren Haut, die erstarrten Gesichtszüge, der braune Blutfleck auf seiner Brust, all das überfiel Lagar auf einmal und traf ihn wie ein Schlag in die Magengrube, mitten ins Zentrum seiner Nervenbahnen. Er sank in die Knie.
Kalter Nieselregen ging über dem Sumpf nieder. Klatschte Peva die Haare an den Kopf und füllte die toten Augen mit falschen Tränen. Eine Geisterhand drückte Lagar die Kehle zu, bis es wehtat.
Dann zog er seinen Bruder an sich und hielt ihn lange fest.
14
Cerise ritt still und überließ dem Pferd die Wahl des Tempos. Zu beiden Seiten des Weges glitt der Sumpf vorüber: die bleichen Hüllen toter Bäume ragten aus dem Brackwasser, das so schwarz war wie flüssiger Teer.
Die erste Runde ging an sie. Peva war tot. Das Gericht hatte zugunsten ihrer Familie entschieden. Sie konnten sich Großvaters Haus rechtmäßig zurückholen. Jetzt mussten sie genau das nur noch tun.
Eigentlich hätte sie zufrieden sein müssen. Stattdessen fühlte sie sich leer und ausgelutscht bis aufs Mark, als sei ihr Körper nur mehr ein abgetragener Lumpen, der lose um ihre Knochen schlackerte. Sie war so erschöpft, wollte vom Pferd steigen und sich irgendwo zusammenrollen, wo es dunkel und still war. Und am meisten sehnte sie sich nach ihrer Mutter.
Cerise seufzte. Was für ein alberner Wunsch. Immerhin war sie vierundzwanzig Jahre alt, also bestimmt kein Kind mehr. Wenn die Dinge sich anders entwickelt hätten, dann wäre sie jetzt verheiratet und hätte längst eigene Kinder. Aber sosehr sie sich auch mit guten Gründen davon abbringen wollte, sie sehnte sich mit der Verzweiflung eines Kindes, das man in der Dunkelheit alleingelassen hatte, nach ihrer Mutter. Dieses Bedürfnis war so elementar und stark, dass sie fast zu weinen begonnen hätte.
Sie wusste nicht mehr, wann sie das letzte Mal geweint hatte. Es musste Jahre her sein.
Ihr Verstand sagte ihr, dass die gewonnene Gerichtsverhandlung nur der erste Schritt auf einem langen Weg war. Während der vergangenen zehn Tage hatte sie ein klares Ziel vor Augen gehabt: Onkel Hugh finden, die Dokumente besorgen, rechtzeitig zur Verhandlung zurück sein. Dafür hatte sie gelebt und geatmet, doch jetzt war das alles vollbracht. Sie hatte ihr Ziel erreicht, aber im Innern, dort, wo sie ihre Mutter vermisste, fühlte sie sich zutiefst betrogen, weil ihre Eltern nicht wie von Zauberhand wieder aufgetaucht waren.
Hinter ihr näherte sich Hufschlag. Cerise drehte sich im Sattel um.
Zwei Reiter kamen im straffen Handgalopp die Straße herab: William und Kaldar. William trug
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