Land der Schatten - Andrews, I: Land der Schatten
selbst kaum sah.
»Ich bin zu alt für so was«, brummte Großmama.
»Wenn ich mich recht erinnere, bist du diesen Weg erst letzte Woche ganz allein gegangen«, wandte Jeremiah ein.
»Ja, das stimmt«, murmelte Großmama.
»Ich war schon immer der Auffassung, dass manche Frauen mit dem Alter immer besser werden«, fuhr Jeremiah fort. »Wie guter Wein.«
Rose verdrehte die Augen. Jeremiah Lovedahl versuchte offenbar, mit ihrer Großmutter anzubändeln. Wo sollte das alles noch enden?
Sie kamen zu einem Kiefernhain. Hier standen die Bäume sehr dicht, die abgebrochenen Aststummel über den Wurzeln hielten Bündel fahler, knochenweißer Windspiele. Jedes von ihnen bestand aus einem Schädel, der zwischen einem Sortiment kleiner Knochen an einem Metallring baumelte. Jenseits der Windspiele stand der Wald unnatürlich still. Nicht eine einzige Kiefernnadel regte sich.
»Sind die Bäume verzaubert?«, fragte Declan leise.
»Knochenwehre«, raunte Rose zurück. »Sehr alt. Sehr mächtig.«
Vor den mit Windspielen markierten Bäumen blieben sie stehen. Die meisten Schädel gehörten Beutelratten, Wölfen, Luchsen, drei jedoch waren menschlich, und einer, mit mächtig kantigem Kiefer und seltsam flach, wies zwei protzige, wie Säbel gebogene Fangzähne auf. Mit einem Nicken deutete Declan auf den bizarren Schädel. »Ein Troll.«
»Richtig«, sagte Jeremiah. »Vor ungefähr fünfzig Jahren kam einer aus dem Weird zu uns. Tötete zwei kleine Mädchen und fraß sie auf.«
»Wie haben Sie ihn erlegt? Für Kugeln ist ihre Haut zu dick, und gegen die meisten Gifte sind sie immun.«
Jeremiah pflückte ein breites, dreieckiges Blatt von einem Zweig und hielt es hoch. Es war ein wenig größer als seine Hand. »Eine Waldträne. Wenn man das Harz dieses Baumes aufkocht, bekommt man einen klaren, geruchlosen und sehr starken Klebstoff. Wir haben dem Troll eine frisch geschlachtete Kuh auf einem Polster aus diesen Blättern vorgesetzt, das wir mit dem Klebstoff getränkt hatten. Trolle sind dumme Geschöpfe. Prompt ließ er sich auf allen vieren vor seinem Festmahl nieder, und sofort klebten die Blätter an seinen Händen und Füßen fest. Er versuchte, sie abzuschütteln, und als ihm das nicht gelang, wollte er sie mit den Zähnen abreißen. Zu seinem Verdruss blieb dabei ein Blatt an seinem Gesicht haften. Da geriet er in Panik und wälzte sich auf dem Boden, bis er von oben bis unten mit Blättern bedeckt war. Eigentlich sollte er so ersticken, aber er kam wieder auf die Beine und lief blindlings drauflos, bis er den Pfosten eines Elektrozauns umrannte und schließlich am Stromschlag starb.«
»Allmählich begreife ich, dass man Ihr friedliches Miteinander nicht ungestraft stört«, bemerkte Declan.
»Oh, wir sind einfache Menschen vom Land.« Jeremiah schenkte ihm ein mildes Lächeln. »Eigentlich bleiben wir lieber unter uns, und wir nehmen es nicht sehr freundlich auf, wenn unsere Kinder ermordet werden. Aber im Grunde sind wir harmlos.«
Magie floss zu ihm, sammelte sich in einer tiefroten Wolke um seinen Körper. Dann hob er die Hände zum Himmel, seine schwarzen Augen verengten sich zu Schlitzen, und er bellte ein einziges Wort. »Ab!«
Die Magie schoss in die Höhe und verschwand. Kurz darauf brach ein langer Schlangenleib durchs Laubdach und plumpste auf die Erde. Ein Blutsaugervogel. Das etwa einen Meter fünfzig lange blassblaue Geschöpf erinnerte an einen Storch, doch anstelle der normalen Federn spaltete sich sein Schwanz in zwei lange, schlangenartige Peitschen mit blauen Büscheln an den Enden. Der Blutsaugervogel zuckte konvulsivisch und trommelte mit seinen gebrochenen Fledermausflügeln auf den Waldboden. Statt eines Schnabels besaß das Tier lange, schmale Kiefer mit nadelspitzen Zähnen, und in bedrohlichen Ausbrüchen ging Magie von ihm aus, ohne Jeremiah jedoch zu erreichen.
»Furchtbare Kreaturen. Voller verdorbener Magie. Der Volksmund sagt, wer von einem solchen Biest gebissen wird, verwandelt sich selbst in eines. Ich habe das nie mit eigenen Augen gesehen, würde es andererseits aber auch nicht einfach so abtun.«
Daraufhin hob Jeremiah sein Gewehr und schoss zweimal auf den Blutsaugervogel. Das Biest zuckte und lag still. Jeremiah wartete ein, zwei Minuten, ging dann zu dem Kadaver, zog eine Machete aus dem Gürtel und schlug dem Vogel mit einem einzigen Hieb den Kopf ab. Er hob ihn auf und warf ihn Richtung Wehr. Der Kopf kullerte zwischen die Bäume und verschwand. Ein Luftzug rührte
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