Land der Schatten - Andrews, I: Land der Schatten
Felsmassiv. Wenigstens mussten die Kinder nicht an dieser Versammlung teilnehmen. Leanne hatte Kenny Jo nach Wood House mitgebracht, wahrscheinlich damit die Ältesten ihn befragen konnten. Damit sie Wood House gemeinsam erkunden konnten, hatten George und Kenny Jo fürs Erste einen Waffenstillstand vereinbart und sich ohne Umstände davongemacht.
»Warum stellen Sie uns dem jungen Mann nicht vor, Rose?«, sagte Jeremiah.
Rose räusperte sich. »Uns direkt gegenüber sitzt Adele Moore.«
Wenn Großmama nur so tat, als sei sie eine Heckenhexe, dann handelte es sich bei Adele tatsächlich um eine: Für eine ältere Frau war sie recht groß, und ihre Haut hatte die Farbe von Kaffeesatz. Ihre Haare fielen ihr in langen, grauen Dreadlocks bis auf die Taille, und in jede einzelne Strähne hatte sie Perlen und Lederbändchen geflochten, an denen Knöchelchen und Talismane aus Holz baumelten. Ihre Kleidung bestand aus Schichten durchscheinender Stoffe in Grün, Olivgrün und Braun. Dazu trug sie ein Dutzend Halsketten, darunter manche aus dünn aufgefädelten verdorrten Pilzhüten, andere aus getrockneten Blüten, wieder andere aus abgeworfener Schlangenhaut, und ein oder zwei aus winzigen Glasperlen, die sie vermutlich bei Wal-Mart gekauft hatte. Ihr Gesicht war runzlig, ihr Haar hatte seine Farbe längst verloren, doch Adeles Augen schauten lebhaft und jung.
»Links von Adele sitzt Emily Paw, Elsie Moores Nichte.«
Emily sah ihrer Tante sehr ähnlich. Hexenhaft und hager, mit herabhängenden Mundwinkeln erinnerte sie an eine vertrocknete Krähe. Rose hatte Emily in ihren vierundzwanzig Lebensjahren noch nie bei einem Lächeln ertappt. Mit Ausnahme von ihr selbst und Declan war Emily von allen Anwesenden die Jüngste, sah aber älter als alle anderen aus.
»Jeremiah und Großmama kennst du ja schon«, sprach Rose weiter. »Der Mann da rechts ist Lee Stearns. Der neben ihm heißt Tom Buckwell.«
»Hallo.« Tom Buckwell hörte sich an wie ein gereizter Ochse und sah auch genauso aus. Er war über zwei Meter groß, brachte dreihundert Pfund auf die Waage und zog im Sitzen die breiten Schultern ein. Abgesehen von allem anderen hatte sie noch nie einen so stark behaarten Mann gesehen: Sein rötlicher Bart war ständig verfilzt, das Haupthaar trug er lang, und die Haare an seinen muskulösen Unterarmen erinnerten an Fell. Wenn er einen über den Durst getrunken hatte, machte er sich angeblich bisweilen einen Spaß daraus, sich nackt auszuziehen und Wanderern im Broken Angst einzujagen, indem er sie glauben ließ, er sei Bigfoot höchstpersönlich. Außerdem war Tom Fred Simoens Onkel ersten Grades.
»Und das ist Earl Declan Camarine«, beschloss Rose ihre Vorstellungsrunde.
Schweigen machte sich breit.
»Woher wissen wir, dass Sie der sind, für den Sie sich ausgeben?«, wollte Lee wissen.
Declan zuckte die Achseln. »Gar nicht.«
»Wie wollen Sie dann beweisen, wer Sie sind?«
Rose straffte sich. Sie hatte mit dieser Frage gerechnet. Es war nur natürlich, dass sie ihn testen wollten, aber Declan auf die Probe zu stellen glich dem Streicheln eines Kampfhunds.
Declans Augenbrauen wölbten sich einen Millimeter. »Ich muss gar nichts beweisen. Ich bin zu Ihnen gekommen, weil Ms Drayton mich davon überzeugt hat, dass mir dieser Ausflug von Nutzen sein würde. Ich bin hier, weil ich Casshorn töten will. Etwas anderes habe ich nicht vor oder im Sinn, und sobald ich mein Ziel erreicht habe, kehre ich dorthin zurück, wo ich hergekommen bin. Es liegt also ganz bei Ihnen, ob Sie mich akzeptieren oder nicht.«
Erstaunlich, wie leicht Declan in den Blaublütigenmodus umschalten konnte. Sein Tonfall war nicht mal besonders herrisch, dennoch klangen seine Worte wie in Stein gemeißelt.
»Lee wollte nur sagen, dass wir gerne einen Beweis Ihrer Macht sehen würden«, sagte Großmama. »Bitte tun Sie uns den Gefallen.«
Er neigte den Kopf. »Wie Sie wünschen, Madame .«
Magie rührte sich in Declan wie ein träges Ungeheuer, das allmählich erwachte, sich streckte, seine Krallen wetzte und stärker und stärker wurde. Seine Iriden glühten weiß. Es schien, als hätte sich die Seite des Raumes, auf der er saß, verdunkelt, während die Magie in seinem Innern leuchtete, anschwoll und sich mit der furchtbaren Macht eines Hurrikans erhob.
Die feinen Haare in Rose’ Nacken richteten sich auf.
Declans Augen sprühten weißes Licht. Ein geisterhafter Windstoß erfasste Rose, den sie sogar sehen konnte – als einen dünnen,
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