Land der Schatten - Andrews, I: Land der Schatten
geistigen Auge sah sie ihn aus der Tür gehen und niemals zu ihr zurückkehren. Furcht umklammerte ihr Herz mit eiserner Faust.
»Es gibt keine Hoffnung für uns«, sagte sie leise.
»Es gibt immer Hoffnung«, entgegnete Declan. »Casshorn mag eine Gefahr sein, aber er handelt ohne Verstand, das macht ihn verwundbar.«
Sie schüttelte den Kopf und zwang sich dazu, sich von ihm freizumachen. Er verstand sie nicht. Stattdessen konzentrierte er sich auf die größere Bedrohung, und es würde ihr gut anstehen, ihm darin nachzueifern. Ihre Sorgen musste sie zunächst für sich behalten. An erster Stelle stand jetzt Casshorn.
»Bezüglich William habe ich keine Ahnung, was er treibt, aber ich bezweifle, dass er Casshorn hilft.«
»Warum?«
»William ist ein dekorierter Veteran, der mehr als zehn Jahre in der Legion gedient hat. Casshorn dagegen hat es gerade mal sechs Monate in der Legion ausgehalten, verdammt, nicht mal bei der Forschungsabteilung der Luftwaffe ist er lange geblieben.« Declan schüttelte den Kopf. »Dort scheiterte er an so lächerlichen Aufgaben wie der Erforschung von Lindwürmern. Ich habe keinerlei Respekt vor ihm und würde niemals Befehle von ihm annehmen. Und ich wüsste nicht, weshalb Will anders darüber denken sollte.«
»Aber warum ist er dann hier?« Sie zog die Stirn kraus.
»Ich weiß es nicht.« Declan verzog das Gesicht. »Aber ich weiß, was ich mache, wenn ich ihn gefunden habe.«
»Und das wäre?«
»Ich verpasse ihm eine blutige Nase.«
Sie blinzelte.
»Ich habe die Legion nach elf Jahren verlassen, um seinen Arsch zu – um die Kastanien für ihn aus dem Feuer zu holen. Eigentlich könnte man da doch ein Dankeschön oder ein wenig Freundlichkeit erwarten. Oder falls nicht, wenigstens eine gewisse Höflichkeit um der alten Zeiten willen, vielleicht eine Nachricht oder so. ›Mein Adoptivvater will sich mit einer Höllenmaschine davonmachen, damit er uns alle umbringen kann. Ich dachte, das würde dich vielleicht interessieren‹, oder so was.«
»Vielleicht wusste er nichts.«
Declan sah sie finster an. »Er wusste alles.«
»Ein Teil von dir ist stocksauer, weil er sich kein Bein ausgerissen hat, um dir für seine Rettung zu danken«, meinte sie.
Declan fluchte. »Das ist mir so was von egal.«
»Es macht dir durchaus etwas aus. Mir wäre das auch nicht egal.«
Da tauchte am Ende des Fahrwegs ein dünner, ein wenig zerzauster Mann auf. Er steckte in schwarzen Hosen und einem roten Polohemd, über dem er eine dunkle Lederweste trug. Hemd und Hose schlotterten um seine schmale Silhouette. Er bekam eine Glatze, und die Überbleibsel seiner kurzen Haare sowie der sauber getrimmte kurze Bart waren reichlich grau durchsetzt. Sein Gesicht strahlte gelassene Freundlichkeit aus, er lächelte, während er ein Pferd den Fahrweg hinauf zum Haus führte, seine verschatteten Augen indes waren tiefschwarz.
Declan fasste den Mann mit der Aufmerksamkeit eines Raubtiers ins Auge. »Wer ist das?«
Rose seufzte. Das war’s mit ihrer Chance zum Gespräch. »Das ist Jeremiah Lovedahl.«
»Weshalb kommt er her?«
»Wahrscheinlich, weil er Großmutter und die Jungen nach Wood House mitnehmen will. Das ist ein schwer bewachter Unterschlupf im Wald.«
»Das klingt nicht sehr überzeugt.«
»Er hat was Bestimmtes vor«, sagte Rose. »Die Menschen im Edge passen im Allgemeinen auf sich selbst auf, aber hin und wieder bekommen wir es mit einer Bedrohung zu tun, mit der keine Familie allein fertig wird. In diesen Zeiten sehen es die Leute gern, wenn meine Großmutter und Jeremiah die Initiative ergreifen. Sie sind unsere Ältesten. Insgesamt gibt es sechs Älteste, und wenn die sich auf etwas einigen, hört ihnen East Laporte meistens bereitwillig zu.«
»Sie zwingen also niemanden, ihnen zu gehorchen, stehen aber allen mit Rat und Tat zur Seite?«, wollte Declan wissen.
Sie nickte. »So ungefähr. Nach unserem Streit rief ich sie zu Großmama, und alle hielten Kriegsrat. Ihnen ist klar, dass wir zu schwach sind, um gegen Casshorn etwas auszurichten, also wollen sie versuchen, ihn auszutricksen. Zuerst muss man dafür sorgen, dass er nichts mehr zu essen hat, also haben sie dazu ›geraten‹, die Stadt so schnell wie möglich zu räumen, um ans Ziel zu gelangen. Gestern Abend haben dann alle, die noch einen Funken Verstand besitzen, ihre Sachen gepackt und sind heute Morgen los, als würden sie ganz normal ins Broken zur Arbeit fahren, mit dem Unterschied, dass heute Nachmittag keiner
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