Land der Schatten - Andrews, I: Land der Schatten
Weg. Ich muss ohnehin mal nachsehen, ob meine Töchter die Stadt auch wirklich verlassen haben. Wegen Holly mache ich mir keinen Kopf, aber Nicki ziert sich wie Melasse im Januar. Sie sollte schon heute Morgen über alle Berge sein, aber ich wette, sie sitzt immer noch wie eine Glucke auf ihren gepackten Koffern.«
»Ich komme auch mit«, sagte Rose. »Wenn ihr Casshorn verhexen wollt, muss ich vorher noch bei meiner Großmutter ein paar Sachen zusammensuchen. Die Jungen sind hier fürs Erste einigermaßen sicher.«
Leanne seufzte. »Das ist ja alles schön und gut, aber wie wollt ihr die Bluthunde ins Wasser lotsen?«
Declans Miene blieb undurchsichtig. »Mit einem Köder.«
»Und der wäre?« Leanne runzelte die Stirn.
»Einer von uns«, antwortete Rose. »Die Bluthunde werden von Magie angelockt. Das bedeutet, er oder ich, Leanne. Einer von uns beiden wird der Köder sein.«
22
Rose umklammerte ihre Schultern und betrachtete das ruhige, teefarbene Wasser des Laporte Pond. Über dreihundertundfünfzig Meter lang und an der breitesten Stelle beinahe einhundertundfünfzig Meter durchmessend, lag der See in einer Senke im Westen der Stadt. Hohe, gräuliche Zypressen umstanden ihn wie Wächter, ihre aufgedunsenen Stämme versperrten, abgesehen von der Westseite, ringsum den Zugang zum Ufer. Aus der Mitte des Sees ragte traurig ein geborstener, baufälliger Anleger.
Declan hockte neben ihr und tunkte die Finger ins Wasser. Tom Buckwell machte einen Bogen um ihn. Declan kaufte ihm sein blödes Sarge-Getue nicht ab, und Rose beschlich der Verdacht, dass Buckwell dies keineswegs entgangen war, denn er begegnete Declan mittlerweile wie einem großen, gefräßigen Tier.
»Es gab hier mal ein Ruderboot«, erklärte sie. »Man konnte damit zu dem Anleger rausrudern, um dort zu angeln. Aber das Boot ist vor zwei Jahren untergegangen, und keiner hat sich um Ersatz gekümmert. Schwimmen kann man in dem Wasser nicht – zu viele Algen.«
Declan drehte sich um und spähte zu den beiden sich vor dem Himmel abzeichnenden Stromleitungen hinauf.
»Wir zweigen unseren Strom vom Broken ab«, erklärte Tom. »Früher gab es keine Möglichkeit, eine Stromleitung bis ins Edge zu verlegen. Aber vor circa fünfzig Jahren verschob sich die Grenze ungefähr einhundertundzwanzig Meter weiter ins Broken. Warum, weiß kein Mensch, aber nachdem die Verschiebung abgeschlossen war, stießen wir mitten im Edge auf einen Strommast, und die Leitung funktionierte sogar noch. Wir vereinbarten ein Treffen mit der Genossenschaft, der dieser Strommast gehörte, und schlossen eine Vereinbarung: Wir zahlen denen einen Haufen Geld, und die fragen nicht, wer ihnen den Strom abzapft.«
Declan musterte ebenso wie Rose den Anleger, der nicht sonderlich groß war. Drei Meter fünfzig mal drei Meter fünfzig. An den im Wasser schaukelnden Flanken hingen alte Taue. Sie oder Declan würde den Anleger entern und Blitze schleudern, um die Aufmerksamkeit der Bluthunde auf sich zu ziehen. Die letzten zwei Stunden hatte sie darüber nachgedacht, und je länger sie überlegte, desto mehr festigte sich die Überzeugung, dass sie diejenige welche sein musste. Sie würde das schon hinkriegen: Auf den Anleger klettern. Den See unter Strom setzen. Ein paar Blitze produzieren, um die Bluthunde anzuziehen, und zusehen, wie sie sich in das tödliche Gewässer drängten. Nichts leichter als das. Was war schon dabei?
Vor ihrem geistigen Auge sah sie sich, umzingelt von Bluthunden, auf dem Anleger stehen. Und was, wenn Elektrizität ihnen nichts ausmachte? Ein Gefühl von Angst erfasste sie. Nein, so durfte sie nicht denken. Sie reckte das Kinn. Alles würde gut werden. Auch wenn die Elektrizität die Biester nicht umbrachte, hatte sie mehr als genug Blitze in sich, um mit ihnen fertig zu werden.
Wenn sie anstelle von Declan auf den Anleger kletterte, wäre er in Sicherheit. Dann könnte er Casshorn nachstellen, während sie sich die Bluthunde vorknöpfte. Und da Casshorn schlief, würde Declan ihm umso leichter beikommen. Solange sie die Bluthunde beschäftigte, konnte er den Kampf heil überstehen.
Rose schlang die Arme noch fester um sich und sah Declan an, der ihren Blick erwiderte.
»Ein Mann, der weiß, was er tut, könnte den Anleger eine ganze Weile halten«, sagte Tom gerade. »Ich denke, wir kappen die Stromleitung dort.« Er deutete auf eine Lücke zwischen zwei Zypressen. »Ich kenne ein paar Typen in der Stadt, die bei der Reifenrunderneuerung arbeiten.
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