Land der Schatten - Andrews, I: Land der Schatten
angenommen hatte. Die Leute nannten sie Moppkopp, allerdings nie, wenn sie dabei war. Mit Latoya ließ man sich nur auf eigene Gefahr ein.
»Willst du was essen?«
»Nein.« Rose hatte in der Eile nicht ans Mittagessen gedacht, und Geld hatte sie auch keins.
»Mädchen, du musst was essen.«
Rose schüttelte den Kopf. »Keinen Hunger. Echt nicht.«
Latoya wandte sich dem Tresen zu, wo die zierliche Juniper Kozlowski in ihrer Manageruniform die Kasse bediente. »Sie will nichts, June.«
Juniper plusterte sich auf: »Wer in mein Restaurant kommt, muss auch was essen, Rose.«
»Danke, aber ich habe keinen Hunger.«
Latoya verzog das Gesicht. »Dann setz dich wenigstens zu uns.«
»Wenn ich mich zu euch setze, versucht ihr bloß, mich zu mästen.« Rose grinste.
»Tja, du musst ja auch essen!«, brummte Latoya. »Schau, mach dir wegen Emerson keinen Kopf. Er ist ein Arsch, aber du bist eine seiner besten Putzfrauen.«
»Ich mache mir keinen Kopf«, log Rose. »Und danke, dass ihr mich mitnehmt.«
Latoya schüttelte den Kopf und nahm mit dem Rest der Blitzblank-Mannschaft an dem größeren Tisch links Platz.
Rose schaute aus dem Fenster. Selbstmitleid lag nicht in ihrer Natur, trotzdem musste sie zugeben, dass ihr das Leben in letzter Zeit übel mitspielte. Zuerst der Blaublütige, dann diese Bluthunde, und jetzt musste sie sich nach dem Ende ihrer Schicht auch noch mit Emerson um ihren wohlverdienten Lohn zanken.
Ihre größten Sorgen waren natürlich der Blaublütige und die Bestien. Die Ungeheuer erinnerten an Windhunde, an schlanke, dämonische Hunde aus einem Albtraum. Und sie waren auf Magie aus. Sie zogen ihre Kraft daraus. Aber welchen Zweck verfolgten sie mit ihren Übergriffen? Wenn sie ihre Opfer zufällig auswählten, angezogen von deren Zauberkraft, dann standen sie alle vier, die Jungen, Großmama und sie selbst, ganz oben auf ihrer Liste. Die Draytons gehörten zu den magiekundigsten Familien im Edge. Natürlich nicht in einem Ausmaß, das einen Blaublütigen wie Declan umhauen würde, das wusste sie sehr wohl, aber nach Edger-Maßstäben waren sie schon ziemlich herausragend. Wie sollte sie da auf die Jungen aufpassen?
Rose kämpfte einen Anflug von Panik nieder. Eins nach dem anderen. Nach ihrer Schicht würde sie erst mal den Kadaver zu ihrer Großmutter schaffen, dann würden sie weitersehen.
Schließlich gab es da noch Declan. Sie hatte keine Ahnung, wie sie ihn herausfordern sollte. Woran würde er scheitern? Was machten Märchenfiguren in so einem Fall? Sie gab sich alle Mühe, sich daran zu erinnern. In den meisten Märchen ging es darum, Reiskörner aus Getreide zu gewinnen oder Goldfäden aus Stroh zu spinnen. Sie war sich nicht sicher, ob er aus Stroh Gold machen konnte, andererseits wäre sie aber auch nicht überrascht, wenn er sogar das hinbekommen würde. Nein, sie musste sich etwas anderes einfallen lassen. Etwas, von dem sie todsicher wusste, dass es auch hinhauen würde. Eine Prüfung mit einem Haken.
Declan tauchte vor ihrem geistigen Auge auf. Was für ein arroganter Arsch! Sie betrachtete ihre Uniform. Dann war die eben ein unansehnliches Monstrum in einer unnatürlichen Farbe. Na und?
Er hatte sie schön genannt.
Schon einmal hatte ihr ein Mann gesagt, dass sie schön, wundervoll, nett und klug sei. Der hatte ihr sogar erklärt, dass er sie liebe, und ihr eine Zuflucht für die Jungen offeriert. Und sie hatte ihm geglaubt, bis zu dem Moment, in dem sie dahintergekommen war, dass er sie zum Verkauf anbieten wollte.
Declan war ein Feind. Eine sehr seltsame Sorte Feind, die kleine Kinder vor Monstern rettete, mit einem Blitzschlag Häuser abdeckte und sich Sorgen um ihre Sicherheit machte. Sie musste sich immer wieder ins Gedächtnis rufen, dass er ein Feind war, da der Eindruck, den er auf sie machte, sie aus dem Konzept brachte. Das musste an seiner Größe liegen. Vielleicht auch an seinem Schwert. Oder an der unglaublichen Macht seines Blitzes. Oder womöglich an allem zusammen …
Vielleicht aber auch an der Tatsache, dass er unglaublich gut aussah, sodass sie sich in eiserner Selbstbeherrschung üben musste, um nicht ständig an ihn zu denken. Soweit sie wusste, konnte er ihre Gedanken nicht lesen, aber ihn wieder loszuwerden würde sich bestimmt als erheblich schwieriger erweisen, wenn er auch nur ahnte, was ihr heute Morgen, als er mit seinem Schwert herumgefuchtelt hatte, durch den Kopf gegangen war. Sie musste sich wie eine Erwachsene aufführen. Klar, er
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