Land der Schatten - Andrews, I: Land der Schatten
eben runter.«
Rose blinzelte. Sie verbrachte eindeutig zu viel Zeit mit Jack und Georgie und pflegte zu wenig Umgang mit Erwachsenen. Als Nächstes würde sie ihm noch damit drohen, ihm seine Comics wegzunehmen, wenn er beim Essen seinen Teller nicht leer aß. »Jack will seine Medizin immer zerkauen«, brummte sie. »Tschuldigung.«
»Er hat mir erzählt, dass er auch schon Pappe essen wollte.«
»Und Kerzen. Und Seife.« Rose klappte den Erste-Hilfe-Kasten auf und sprach weiter, während sie sich an die Arbeit machte. »Als ich noch klein war, habe ich im Vorgarten die Wäsche aufgehängt. Jack spielte neben mir im Gras. Ich habe zehn Sekunden nicht aufgepasst, und schon war er weg. Als ich ihn fand, war sein ganzes Gesicht mit rotem Beerensaft verschmiert. Ich sorgte dafür, dass er alles auf der Stelle von sich gab, und er ist noch in meinen Armen eingeschlafen. Ich dachte, er wäre wegen dem Gift in Ohnmacht gefallen, und da mein Vater gerade den Truck hatte, rannte ich mit ihm zu Großmama.«
Rose griff nach einem verschließbaren Plastikbeutel mit weißem Verbandmull, breitete den Inhalt auf dem Tisch aus und nahm drei gebogene Nadeln und zwanzig zugeschnittene Fäden, jeder etwa dreißig Zentimeter lang. Sie zog die Fäden durch die drei Nadeln, goss Wasser in einen Topf, legte die Nadeln, die Fäden sowie eine kleine Pinzette ins Wasser und stellte das Ganze auf den Herd.
»Wie ging es aus?«, wollte Declan wissen.
»Wie sich herausstellte, hatte er Kermesbeeren gegessen. Sie sind zwar giftig, aber er hatte nicht genug davon intus, um Schäden davonzutragen. Ich erinnere mich noch, wie ich damals gerannt bin, an jeden Schritt, das waren die schlimmsten fünf Minuten meines Lebens.«
»Wie alt waren Sie da?«
»Sechzehn. Kommen Sie, ich muss Ihre Wunden auswaschen«, sagte sie.
Er ging mit ihr ins Badezimmer, wo sie den Duschkopf aus der Halterung nahm und die Wunden auf seinem Rücken mit lauwarmem Wasser ausspülte. Danach kehrten sie in die Küche zurück, wo sie besseres Licht hatte, um sich seine Verletzungen genau anzuschauen. »Nur die obere muss genäht werden. Bei der unteren genügen Heft- und Schmetterlingspflaster.«
Sie schaltete den Herd aus, ließ die Nadeln abkühlen, wusch sich Hände und Arme bis zu den Ellbogen mit Seife und schraubte die Flasche Jodtinktur auf. »Sind Sie allergisch gegen Meeresfrüchte?«
»Nein. Sie können ruhig Jod verwenden. Keine Nebenwirkungen.«
»Oh, gut.« Sie tränkte Mull mit Jodtinktur und machte sich daran, die Schnitte zu säubern. Sein Rücken blieb steinhart. Ein riesiger, mit Muskelwölbungen und Narbengewebe übersäter Rücken.
»Sie müssen nicht so hammerhart tun«, sagte sie.
»Wäre es Ihnen lieber, wenn ich weine?«
»Nein.« Sie hatte die untere Wunde gereinigt und verarztet. »Sie können immer noch zu einem Chirurgen im Broken gehen.«
»Nicht nötig.«
Rose trug den Topf zum Tisch und griff mit der Pinzette nach der ersten Nadel, hielt sie ein, zwei Minuten fest, damit sie sich auch wirklich abkühlte. Dann presste sie die Ränder der oberen Schnittwunde zusammen, packte die Nadel und durchstach damit den Wundrand. Dann drückte sie die Nadel ganz hindurch, zog sie mit der Pinzette heraus und beendete den ersten Stich. Die beiden Jungen hätten längst geheult. Sie auch. Sie hatte schon so manche Schnittwunde nähen müssen. Irgendwann spürte man nichts mehr, aber die ersten Stiche brannten wie Feuer. Declan saß unbeweglich da. Er war ein mächtig furchteinflößender Bastard.
»Sie sind schnell«, sagte er. Seine Stimme klang plötzlich tiefer. Hätte sie es nicht besser gewusst, wäre ihr duchaus in den Sinn gekommen, er wolle mit ihr flirten. Aber ein Kerl musste schon völlig abgedreht sein, wenn er mit einer Frau flirtete, während die mit Metall in seinen Wunden herumfuhrwerkte.
»Ich bin nicht zum ersten Mal beim Rodeo … Gibt’s im Weird eigentlich auch Rodeos?«, fragte sie, um sich versuchsweise von dem Umstand abzulenken, dass sie gerade eine Riesenadel in sein lebendiges Fleisch bohrte.
»Ja. In der Texanischen Republik sind sie sogar Nationalsport.«
»Texas ist eine unabhängige Republik?« Sie hatte den Faden fertig verknotet und nahm nun den nächsten in Angriff.
»Weird und Broken sind wie Spiegelbilder, dieselben Kontinente. Dieselben Meere. Allerdings ist der nordamerikanische Kontinent im Broken längs geteilt.«
»Was meinen Sie mit längs?«
Als die Nadel in seinen Rücken eindrang, entstand
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