Land der Schatten - Andrews, I: Land der Schatten
aus.
Éléonore drückte ihn an sich. Sie roch sein Haar, spürte seinen Herzschlag und begriff endlich, dass er am Leben war.
»Wir müssen raus«, sagte Declan scharf. »Hier kann ich Sie nicht beschützen. Können Sie den Jungen tragen?«
Er brauchte beide Hände für sein Schwert. Rasch hob sie Georgie von der Tischplatte. »Halt dich an mir fest, Schatz.«
Declan zog das Schwert aus der Scheide und marschierte los. Als Éléonore ihm folgte, fiel ihr auf, dass sein Rücken rot von Blut war. Bestien aber bluteten silbrig.
Sie gingen durch die Küche zur Vordertür, die Declan mit einem Fußtritt aufstieß. Von rechts stürzte sich ein Bluthund auf ihn und fiel unter aufblitzendem Stahl.
Declan überquerte die Veranda und nickte ihr zu. Sie folgte ihm.
Von einem Haufen Bestienkadavern am Rand der Wiese stieg verdorbener Dunst wie der Duft verwelkter Blumen auf. Ihr Silberblut lief in einer großen Lache zusammen, deren Oberfläche silbrig glänzte und zu einer Korkenzieherfontäne aufgewirbelt wurde, die sich geisterhaft schwarz färbte und zu den Umrissen eines Mannes zusammenfloss. Éléonore erkannte kein Gesicht oder besondere Kennzeichen, nur einen schwarzen Umriss, wie ein Loch im Gewebe der Welt.
Der Schatten sprach: »Ich will bloß den Jungen. Nur mal kosten …«
Declan wirbelte herum, das Gesicht zur Grimasse verzerrt. Ein Strom Weiß entfuhr ihm und zersetzte die Bestien, die Silberlache sowie den Schatten darin.
»Kommen Sie«, drängte er dann. »Das Wehr um Rose’ Haus ist besser. Schnell.«
Da hörte Éléonore fernes Motorengeräusch. Kurz darauf schoss ein Truck um die Wegbiegung, und hinter der Windschutzscheibe erkannte sie Rose’ Gesicht.
Rose zog behutsam die Decke über Georgie und sah ihre Großmutter an. »Geht’s dir gut?«
Großmama nickte wortlos. Rose ging zu ihr und schloss sie in die Arme. Éléonore war eine rundliche, fröhliche Frau, aber in diesem Moment wirkten ihre Schultern unter den vielen Schichten mutwillig zerlumpter Kleidung zerbrechlich. Dennoch hob sie die Hand und tätschelte Rose den Arm. »Ich dachte, ich hätte Georgie verloren.«
»Hast du aber nicht.«
Solange Rose zurückdenken konnte, hatte ihr Großmama als Kraftquelle gedient, als die einzige Konstante in ihrem Leben. Ihre Mutter war schon vor ihrem Tod nicht mehr richtig da gewesen, ihr Großvater starb, und sich auf ihren Vater zu verlassen bedeutete unweigerlich Kummer. Großmama jedoch war stets da, wusste immer, was zu tun war, und wenn sie mal keine Lösung fand, brachte sie wenigstens alle zum Lachen. Jetzt war jede Spur von Mutterwitz verschwunden. Alt und grau saß sie auf ihrem Stuhl, und selbst ihre hochtoupierte Frisur schien erschlafft kapituliert zu haben. Rose’ Brust krampfte sich zusammen.
»Möchtest du eine Tasse Tee?«, fragte Rose.
»Nein.« Ihre Großmutter betrachtete die beiden Jungen. Georgie schlief. Jack hatte sich neben ihm zusammengerollt, er schlief nicht wirklich, verhielt sich aber ganz still und beobachtete Georgie durch die schmalen Schlitze seiner halb geschlossenen Augen.
»Lass mich einfach hier sitzen«, murmelte Großmama. »Ich brauche ein bisschen Zeit, damit ich begreife, dass es den beiden gut geht. Mach du nur weiter. Kümmere dich um Declan. Sein Rücken ist eine einzige Fleischwunde.«
Rose musterte sie einen langen Augenblick und glitt dann leise aus dem Zimmer. Declan saß in der Küche auf einem Stuhl am Tisch. Er hatte sein Lederwams und das Unterhemd abgestreift und kehrte ihr den Rücken zu. Zwei lange, hässliche Schnitte klafften in seiner Haut, in den tiefen, offenen Wunden klebte verkrustetes Blut. Besorgnis traf sie wie kalte Nadelstiche. Trotz seiner Kraft hätten ihn die Bestien ohne Weiteres in Stücke reißen können.
»Ich nehme nicht an, dass Sie wissen, wie man die Wunden zusammennäht?«, vermutete er.
»Da haben Sie Glück.« Sie ging ins Badezimmer und brachte den Erste-Hilfe-Kasten mit. »Aber ich kann Sie auch ins Krankenhaus bringen, wenn Ihnen das lieber ist. Dank Ihnen habe ich jetzt genug Geld dafür.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich vertraue Ihnen.«
»Berühmte letzte Worte.« Sie gab ihm ein Glas Wasser und zwei Filmtabletten. »Die wirken entzündungshemmend, betäuben die Schmerzen ein bisschen und verhindern schlimme Schwellungen und Rötungen. Runterschlucken, aber nicht zerkauen.«
»Ich wollte sie mir schon in die Nase stecken und ein Walross nachmachen, aber wenn Sie darauf bestehen, schlucke ich sie
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