Land der Schatten: Schicksalsrad (German Edition)
geringste Schnitzer, und schon haben sie mich bestohlen und mir ins Gesicht gelacht, wenn ich sie darauf angesprochen habe, weil ich nicht gut genug war, sie auf frischer Tat zu ertappen.«
»Deshalb habe ich es nicht gemacht.« Kaldar nahm ihre Hand. »Es tut mir leid, Audrey. Bitte, schenken Sie mir ein Lächeln.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Lassen Sie mich in Ruhe.«
»Audrey, im Ernst, was soll ich machen? Sie sind weggerannt wie ein Kind.«
Sie presste die Worte durch zusammengebissene Zähne. »Ich bin gegangen, weil ich mich nicht mit Ihnen abgeben wollte.«
Kaldar stand auf und streckte die Hände aus. »Nun, ich bin trotzdem hier. Seien Sie ein großes Mädchen und reden Sie mit mir. Wovor fürchten Sie sich …«
Sie verpasste ihm einen gekonnten Schlag mitten aufs Kinn. Kaldar verdrehte die Augen und kippte um wie ein Baumstamm.
Audrey musterte seinen gefällten Körper ausführlich. Ihr tat die Hand weh. Sie hätte ihn hier im Wald liegen lassen sollen. Aber sie war gar nicht mehr wütend – sie hatte ihren ganzen Zorn in den Schlag gelegt. Sie stieß ihn mit der Schuhspitze an.
»Stehen Sie auf.«
Kaldar öffnete langsam die Augen, setzte sich auf und rieb sich das Kinn. »Guter Schlag.«
»Den hatten Sie verdient.«
Da sauste beinahe im Tiefflug ein graues Fellknäuel aus dem Unterholz. Ling ging auf Kaldar los. Ihre spitzen Zähne bohrten sich in Kaldars Arm. Kaldar fluchte verblüfft, und der Waschbär verzog sich in den Schutz des Gebüschs. Ling, die Rächerin unter den Waschbären.
»Was zur Hölle?« Kaldar starrte die Bissspuren an seinem Unterarm an.
»Erwarten Sie keine Gnade von Ling, der Gnadenlosen.« Audrey streckte die Hand nach ihm aus. Er ergriff ihre Hand, und sie zog ihn hoch. »Wir desinfizieren das besser.«
Er schüttelte den Kopf. »Wie haben Sie Ling dazu abgerichtet?«
»Ein bisschen Futter und Streicheleinheiten.« Audrey trat über einen abgefallenen Ast. »Sie ist wie eine Katze: Sie macht nur das, was sie sowieso wollte. Als sie noch sehr klein war, ist ihr etwas Schlimmes zugestoßen. Sie war voller Blut, als ich sie gefunden habe. Der Tierarzt meinte, etwas hätte sie gebissen, ich war nicht mal sicher, ob sie überleben würde. Sie hat, aber sie ist ein furchtbarer Feigling. Sie fürchtet sich vor Hunden; wenn sie welche riecht, faucht sie. Sie hat Angst vor Fremden; wenn sie einen kommen sieht oder wittert, läuft sie weg und versteckt sich bei mir. Ich bin überrascht, dass sie den Mut gefunden hat, Sie zu beißen.«
»Sie hat bestimmt gedacht, Sie seien in Gefahr«, meinte Kaldar.
Sie hatte sich nicht getäuscht. Der Diebstahl des Kreuzes schmerzte sie, am meisten jedoch, weil Kaldar es gestohlen hatte. Sie hatte geglaubt, dass ihre innere Alarmanlage und ihre sorgfältigen Überlegungen sie vor Problemen bewahren würden, doch leider hatte sie sich getäuscht. Sie war bereit gewesen, ihm zu vertrauen, und ein kleiner, naiver Teil von ihr hatte verzweifelt gehofft, er sei ein besserer Mensch, als er zu sein vorgab. Genau so wird es kommen, sagte sie sich. Lerne daraus. Er hat dich einmal wie Dreck behandelt, und er wird es wieder tun .
Kaldar sah sie an. »Ist das Kreuz der Grund, warum Sie zu stehlen aufgehört haben?«
»Das Kreuz gehört mir, Kaldar. Alles andere gehörte der ganzen Familie. Meine Kleider, meine Spielsachen, alles ließ sich verkaufen, wenn wir Geld brauchten, oder zurücklassen, wenn wir uns überstürzt absetzen mussten. Ich habe gelernt, mein Herz nicht an Dinge zu hängen. Schließlich waren es nur Objekte. Und die wechselten ständig den Besitzer: Ich stahl sie und gab sie meinem Dad, der sie dann verkauft hat. Später versuchte Alex, mir meine Beute abzunehmen, und alles, was ich gestohlen hatte, zu verkaufen, um an Drogen zu kommen. Aber das Kreuz gehörte mir ganz allein. Sogar mein bescheuerter Vater hat das kapiert. Und dann hat mir ein brutaler Kerl wehgetan und es mir weggenommen, und ich konnte nichts dagegen tun. Ich fühlte mich so ohnmächtig. Wütend, ängstlich und ohnmächtig. Als hätte er etwas tief in meinem Inneren geschändet. Damals lernte ich, was es heißt, wenn einem etwas, das man liebt, gestohlen wird. Deshalb mache ich das nicht mehr.«
Schuld nagte an ihr. Außer wenn mein Vater mich dazu überredet . Schön, sie würde es wiedergutmachen.
»Und wenn ich etwas anderes als das Kreuz entwenden würde …«
»… fackele ich Ihren Haarschopf an, Kaldar. Dann haben Sie eine Glatze.«
Kaldar
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