Land der Schatten: Schicksalsrad (German Edition)
nicht.« Gaston setzte sich auf die Kiste und sah sich die Scheiben mit der Kette daran an. »Kaldar hat zwei Brüder. Das heißt, er hatte zwei Brüder. Richard und Erian, aber Erian war ein gutes Stück jünger und hatte eine andere Mutter, daher standen sie sich nicht besonders nahe. Der Vater war das Familienoberhaupt, die Mutter fort. In der Familie behauptet man, sie sei gestorben, aber das ist nicht wahr. Sie hat alle im Stich gelassen und sich ins Broken davongemacht. Das Leben im Moor ist hart, und die Menschen setzen alles daran, von dort wegzukommen.«
Als Kind von den eigenen Eltern im Stich gelassen zu werden … Ihre Mutter hatte sie emotional mehr als nur einmal abgefertigt, aber wenigstens nicht verlassen.
»Dann brachte eine rivalisierende Familie ihren Vater um. Richard war damals sechzehn, Kaldar vierzehn, Erian, glaube ich, erst neun. Sie kamen zu Tante Murid, der Schwester ihres Vaters. Ein zähes Luder. Als junges Mädchen floh sie ins Weird und kämpfte jahrelang in der Armee des Herzogtums von Louisiana, bis man ihr auf die Schliche kam und sie erneut fliehen musste und heimkehrte. Murid war hart. Als ich klein war, hatte ich richtig Schiss vor ihr. Aber egal, immerhin hat sie Richard und Kaldar wie ihre eigenen Kinder großgezogen. Ich schätze, Richard war irgendwie von Anfang an erwachsen. Er ist sehr ernsthaft. Der klügste Mensch, den ich kenne. Kaldar war immer schon so wie jetzt, Witze machen, lachen, ha, ha, guck mal, ich habe dir dein Geld vor der Nase weggenommen. Die Familie musste nicht verhungern, weil er und seine Cousine Cerise sich auf die Hinterbeine stellten und im Broken Sachen verkauften. Feilschen Sie bloß nicht mit den beiden. Keine gute Idee. Egal, jedenfalls haben Cerise und Kaldar alles dafür getan, dass keiner von uns Hunger leiden musste. Kaldar hat immer versucht, Tante Murid zu beeindrucken. An seine leibliche Mutter kann er sich kaum erinnern, aber sie war ihm mehr eine Mutter als sonst jemand. Dann brachte Spider die Hand ins Moor, entführte Cerises Eltern, und alles ging den Bach runter.«
Dieser Spider kam ganz schön herum. »Was wollte er?«
»Alles«, sagte Gaston. »Vor allem anderen wollte er die sogenannte Kiste. Eine lange Geschichte. Stellen Sie sich das Ding einfach als eine sehr mächtige Waffe vor. Wir konnten sie nicht einsetzen, aber auch nicht den Louisianern überlassen. Da erklärte uns die Hand den Krieg. Spider spürte meine Familie auf. Mein Dad ist ein Halbtoas – deshalb mein Aussehen –, und wir wohnten immer ein Stück vom Haupthaus entfernt. Ich sollte Wache halten. Aber ich habe meinen Posten wegen einer blöden Besorgung verlassen. Spider drang in unser Haus ein und schnitt meiner Mutter ein Bein ab. Er kappte es unter dem Knie mit einem Hackbeil.«
»Oh mein Gott.« Ihr sträubten sich die Nackenhaare. »Schrecklich.«
»Die Hand meint’s ernst«, sagte Gaston. »Egal, wir haben uns gewehrt und gewonnen, aber in der entscheidenden Schlacht starb Tante Murid. Kaldar sah es, kam aber nicht mehr rechtzeitig hin. Er tötete den Freak, der sie umgebracht hatte. Fragen Sie ihn danach, dann zeigt er Ihnen die Narben an seinem Arm. Aber es war schon zu spät.«
Oh, Kaldar .
Gaston biss sich auf die Unterlippe. »Seitdem stimmt was nicht mit ihm. Als er Murid sterben sah, ist irgendwas in ihm zerbrochen. Trotzdem tut er so, als wäre noch alles in Ordnung. Man sieht es ihm nicht an, weil er sich ganz normal benimmt, aber irgendwie ist bei ihm eine Schraube locker. Angeblich hat er sich beim Spiegel gemeldet, weil er sichergehen wollte, dass gut für die Überreste seiner Familie gesorgt ist, aber das ist nicht der wahre Grund. Er will sich an der Hand rächen. Was aus ihm wird oder wie das passiert, ist ihm völlig gleichgültig. Er wird jede Gelegenheit nutzen, um diese Leute zu töten.«
»Gaston«, sagte sie freundlich, »ich weiß, dass du dich um deinen Onkel sorgst, doch Kaldar ist ein Gauner, aber kein Mörder.«
Gaston blinzelte. »In unserer Familie pflegen wir Traditionen.«
»Was soll das heißen?«
»Kaldars Onkel, das Familienoberhaupt, hat einen Spitznamen.«
»Aha.«
»Tod.«
»Wie bitte?«
»Man nennt ihn den Tod«, sagte Gaston. »Weil Menschen sterben, wenn er sein Schwert zieht. Wir werden im Schwertkampf ausgebildet, sobald wir eine solche Waffe halten können und nicht mehr darüberfallen. Außerdem lernen wir, unsere Blitze in die Schwerter zu leiten und im Kampf einzusetzen. Kaldar ist nicht so gut
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