Land der Schatten: Schicksalsrad (German Edition)
sich ihr, verband das Seil mit ihrem Geschirr und überprüfte ihre Schnallen und Gurte.
Aus dem Inneren der Burg drang Geschrei.
Gaston sprang vom Balkon. Aus seinem Geschirr entfalteten sich zwei blaue Stoffbahnen, dann rasteten Flügel ein. Hinter ihm kam Jack, der durch ein kurzes Seil mit Gaston verbunden war. Gemeinsam segelten sie auf die Bäume herab.
William küsste Cerise, griff sich Francis, warf ihn über die Brustwehr und sprang hinterher. Der junge Mann kreischte. Beide stürzten in die Tiefe, dann öffneten sich auch ihre Flügel.
Cerise streckte ihre Hand aus. »Kommen Sie, wir springen zusammen.«
Kaldar brüllte eine Warnung.
Audrey drehte sich um. Aus dem Himmel fiel eine riesige krallenbewehrte Gestalt auf sie herab. Audrey erhaschte einen Blick auf Fell, gewaltige Klauen, ein finstreres Fleischfressermaul am Ende eines Schlangenleibs und einen einzelnen Reiter auf dem Rücken der Bestie.
Cerise fuhr herum. Zu spät. Die Krallen trafen Kaldars Cousine. Der Aufprall stieß sie von der Mauer. Einen Augenblick lang sah Audrey Cerise wie in Zeitlupe abstürzen, von dunklen Haaren umflattert, den Mund vor Überraschung und Wut weit aufgerissen, dann verschwand sie hinter der Brustwehr. Die Welt drehte sich in ihrem normalen Tempo weiter. Das Seil, das Audrey an Cerise band, straffte sich und riss sie hinter Cerise auf die Mauerkante zu. Ehe sie fliehen konnte, sprang der Reiter ab und kappte das Seil mit einem einzigen Messerhieb.
Sebastian .
Audrey wich sofort vom Rand zurück. Der Mann kam auf sie zu, seine Augen richteten sich mit räuberischem Vergnügen auf ihr Gesicht. Da erschien Helena unter der in die Burg führenden Tür. Ihre Uniform war blutbefleckt.
Auf dem anderen Balkon zerschnitt Kaldar das Seil zwischen ihm und George und stieß den Jungen in die Tiefe.
»Weg hier!«, schrie Audrey ihn an. »Weg hier!«
Sie rannte zur Kante. Helena und Sebastian stürmten los, um ihr den Weg abzuschneiden.
Vor ihr ragte das Geländer auf. Die Sicherheit so nah.
Da traf sie Helenas Tritt, wirbelte sie herum, sodass sie auf den Steinboden fiel. Eine Hand griff ihr in den Nacken. Dann zog Sebastian sie hoch.
Der Schmerz schnürte ihr die Kehle zu.
Plötzlich bekam sie keine Luft mehr. Audrey wollte um sich treten, doch ihre Füße trafen nur Luft.
Die Welt verblasste.
»Tauschen wir«, hörte sie Helenas kalte Stimme sagen. »Dein Leben gegen ihres.«
Nein, wollte sie schreien, aber ihre Kehle gehorchte ihr nicht. Nein, du Idiot !
Durch einen Tränenschleier sah sie ein paar Schritte entfernt Kaldar. Vollkommen ruhig.
»Guter Tausch«, sagte er.
»Nein!«, schrie sie jetzt, doch das Wort entrang sich ihr nur als heiseres Krächzen.
Kaldar nahm das Geschirr ab, ließ es fallen und verschränkte die Hände hinter dem Kopf.
»Lass sie los«, befahl Helena.
Die Hand an ihrer Kehle drückte zu.
»Sebastian! Lass sie los!«
Doch Sebastian warf sie übers Balkongeländer. Sie fiel, stürzte ab. Die Bäume rasten ihr entgegen. Dann klappten ihre Flügel auf, doch der Erdboden kam viel zu schnell näher. Audrey krachte in einen Baum. Als sie von Ast zu Ast stürzte, brachen unter ihr Zweige, ihre Flügel hüllten sie ein wie ein zerfetztes Leichentuch. Dann prallte sie auf den Boden, und alles war still.
Mit schlotternden Knien rappelte sich Audrey auf. Ein stechender Schmerz fuhr durch ihre Rippen.
Hoch über ihr ragte die Burg aus dem Berg. Ihr Drache war nach dem ersten Anflug auf der Nordseite gelandet – und sie dem Sonnenstand zufolge auf der Westseite. Den Drachen zu erreichen war ihre einzige Hoffnung.
Sie musste sich aufmachen, musste Gaston und die Jungen finden. Und dann Kaldar helfen.
Audrey wischte sich das Blut aus dem Gesicht und machte sich auf den Weg nach Norden.
15
Kaldar saß auf einem Stuhl, Arme und Beine mit Gurten gefesselt. Wie sehr er sich auch anstrengte, er konnte sich keinen Millimeter bewegen.
Der Raum war spärlich erhellt, doch er konnte Helena d’Amry deutlich erkennen. Sie kam mit einer Spritze in der Hand auf ihn zu. Ein kalter, feuchter Tupfer berührte seinen Arm, dann spürte er den Einstich und sah zu, wie die Spritze sich rot füllte.
»Sie haben die Diffusoren verloren«, sagte er.
»Die Diffusoren waren mir in jenem Moment egal, als ich erfuhr, dass Sie mit von der Partie waren.« Helena musterte die Spritze und gab ein wenig Blut in ein langes Teströhrchen.
Wozu? Die Frage lag ihm auf der Zunge, aber er wollte sie nicht stellen. Sie
Weitere Kostenlose Bücher