Land der Schatten: Schicksalsrad (German Edition)
gekehrt. Wenn ein Beklagter in einem Kriminalfall sich einen Rechtsanwalt nahm, verpflichtete der Anwalt seinerseits anscheinend häufig einen Privatdetektiv. Bevorzugt einen Polizisten im Ruhestand. Der Detektiv erledigte dann die Lauferei, sprach mit der Polizei, befragte Zeugen, ging Ermittlungsberichte durch und so weiter. Audrey würde bei allem dabei sein und sich anschauen, wie die andere Seite arbeitete.
Oh ja, heute war ein guter Tag. Wenn sie sich nicht so sehr um Professionalität bemühen würde, wäre sie bestimmt wie eine Vierjährige, der man gerade einen Tag im Freizeitpark versprochen hatte, laut jubelnd über den Korridor gelaufen. Gerade wollte sie ihre Bürotür öffnen.
»Audrey!«, hörte sie Johannas Stimme hinter sich.
Audrey drehte sich auf dem Absatz um. »Ja, Ma’am?«
Johanna schaute zwei Türen weiter, halb drinnen, halb draußen, aus ihrem Büro heraus. »Sie haben einen Klienten. Seren hat ihn in Ihr Büro geschickt, weil George das Konferenzzimmer besetzt hält.«
Ein Klient? Jetzt schon? »Danke!« Audrey griff nach dem Türknauf.
»Er meinte, er sei mit Ihrem Bruder befreundet.«
In Audrey platzte eine kleine, eisige Kugel. Wie versteinert blieb sie stehen. Nichts, was mit Alex zu tun hatte, dürfte gut sein. Ihr Vater konnte es nicht sein – Seamus war für so etwas zu eingebildet, er würde sich als ihr Vater zu erkennen gegeben haben. Nein, das war entweder irgendein Drogenhändler oder jemand, der Wind von ihrem Raubzug bekommen hatte und nun sein Stück vom Kuchen wollte.
Sie starrte die Tür an. Ihre Intuition gebot ihr zu verschwinden. Lass den Türknauf los, dreh dich um, lauf los und hör vorläufig nicht auf zu rennen.
»Na, egal, ich brauche Sie ab zehn, Sie haben also etwa eine Stunde.«, sagte Johanna. »Meinen Sie, Sie sind bis dahin fertig?«
Audrey hörte ihre eigene Stimme: »Ja, Ma’am.« Geh in dein Büro, damit ich abhauen kann. Mach schon, geh in dein Büro .
Johanna lachte. »Hören Sie auf, mich Ma’am zu nennen. Hier an der Westküste geht’s nicht so förmlich zu. Johanna genügt.«
»Okay, Johanna.« Audrey rang sich ein Lächeln ab. Geh doch endlich .
Johanna wollte sich zurückziehen, hielt aber noch mal inne.
Und jetzt ?
Serena kam mit einem Stapel Schnellhefter den Korridor hinunter. Oh, nein. Geh weiter. GEH WEITER !
Serena blieb vor Johannas Tür stehen und reichte ihr einen Vorgang. Nun würde sie an beiden vorbeimüssen, wenn sie nach draußen wollte. Damit war ihr der Fluchtweg endgültig abgeschnitten.
Warum jetzt ? Wo doch gerade alles so gut läuft ? Bin ich verflucht, oder was ?
Audrey schluckte. Alles gut. Sie war eine Callahan. Sie würde damit klarkommen.
Audrey öffnete die Tür. Am Fenster stand ein Mann und blickte hinaus. Er trug ausgebleichte Jeans, derbe braune Lederstiefel und einen kohlrabenschwarzen Kapuzenpulli. Auf der Straße würde sie leicht zehn ähnlich gekleidete Kerle finden. Die Menschen an der Westküste waren locker drauf und hielten sich nicht mit Formalitäten auf. Der Mann konnte alles Mögliche sein: ein älterer Collegestudent, ein Professor oder der Generaldirektor eines Multimillionenunternehmens.
Seine Haare waren weder zu lang noch zu kurz, zerzaust und sehr dunkel, fast schwarz. Er hatte breite Schultern, die Taille war unter dem Sweatshirt kaum zu erkennen, doch sein Hinterteil sah aus, als hätte er ziemlich viel Zeit im Laufschritt zugebracht. Haar und Hintern ließen auf jünger als vierzig schließen, die Schultern zeigten, dass er kein Teenager mehr war. Vermutlich Ende zwanzig. All das fand sie binnen einer Sekunde heraus.
Audrey setzte ein strahlendes Jungmädchenlächeln auf und sagte: »Hi!«
Der Mann drehte sich um.
Oh, großer Gott !
Er hatte ein schmales, kräftiges Gesicht, ausgeprägte Wangenknochen und volle Lippen. Ohne die obere Gesichtshälfte wäre er ein gut aussehender Mann gewesen, aus seinen Augen jedoch blickte der Schalk. Sie waren hellbraun wie Honig, klug und von langen Wimpern eingerahmt und funkelten verschmitzt. Sie erhellten das ganze Gesicht und verwandelten den gut aussehenden Typen in jene Sorte Mann, vor der sich jede Frau mit einem Funken Verstand hüten würde. Allerdings mäßigte er sich praktisch sofort. Sie hatte seinen Ausdruck nur zu Gesicht bekommen, weil sie ihn in einem unbedachten Moment erwischt hatte. Zu spät. Netter Versuch . Sie hatte lange genug im Edge gelebt, unter Bauernfängern, Dieben und Schwindlern. Keine Sorge, ich habe
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