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Land der Schatten: Schicksalsrad (German Edition)

Land der Schatten: Schicksalsrad (German Edition)

Titel: Land der Schatten: Schicksalsrad (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilona Andrews
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finden. Ihr Bruder oder Ihr Vater werden Sie früher oder später wieder über die Klinge springen lassen, dann nehmen die Ihre Witterung auf, und Sie wachen mit Ungeheuern vor Ihrem Bett auf. Sie haben Kontakte im Edge. Fragen Sie die, ob ich Sie anlüge.«
    Laufen Sie weg, wenn Sie wollen … ja, klar. Sie konnte es seinen Augen ansehen, dass sie nicht sehr weit kommen würde. Er hatte nicht vor, sie entkommen zu lassen. Wie früher, als Kind, hatte sie auch jetzt technisch gesehen eine Wahl, praktisch jedoch wurde wie immer über ihren Kopf entschieden.
    »Das ist nicht mein Schlamassel«, teilte sie ihm mit.
    »Sie haben die blöden Dinger gestohlen und den Schlamassel angerichtet. Also stecken Sie bis zum Hals in der Scheiße.«
    »Nein.«
    »Audrey, überlegen Sie gut.«
    Das hatte sie. Audrey wandte den Blick ab. Er fiel auf die Sammlung altgriechischer Mythen, in der sie gestern erst gelesen hatte. Sie war wie Odysseus zwischen Scylla und Charybdis gefangen: auf der einen Seite die Hand, auf der anderen der Spiegel. Und beide würden sie verschlingen, ohne eine Sekunde zu zögern.
    Es gefiel ihr hier. Es war nichts Besonderes, aber gemütlich und komfortabel. Sie mochte ihr altes Sofa, auf dem sie las, während Ling sich zu ihren Füßen zusammenrollte. Sie wollte doch einfach nur in Ruhe gelassen werden. Weiter nichts.
    »Kann sein, dass Ihnen meine hässliche Visage nicht gefällt«, sagte Kaldar, »aber so kitschig sich das auch anhören mag, ich bin Ihre einzige Lebensversicherung. Ich habe gegen diese Leute gekämpft, ich habe sie getötet, und ich werde es wieder tun.«
    Für Audrey ging es in Windeseile vom Regen in die Traufe. »Und wenn ich Ihnen helfe?«, fragte Audrey.
    »Ich kann Ihnen nicht versprechen, dass Sie mit heiler Haut davonkommen. Aber ich verspreche Ihnen, dass ich alles unternehme, um Sie zu beschützen, und wenn wir Erfolg haben, wird der Spiegel dafür sorgen, dass Sie vor der Hand keine Angst mehr haben müssen.«
    »Heißt das, der Spiegel wird mich umbringen?«
    »Nein, es heißt, der Spiegel wird für Sie tun, was er auch für meine Familie getan hat. Man wird Ihnen genug Geld und Lebensraum in Adrianglia geben, um mit allem Drum und Dran neu anfangen zu können.«
    Anscheinend glaubte er wirklich, dass sie erst gestern vom Baum gefallen war.
    Ihre Familie hatte dermaßen ins Klo gegriffen, dass nun das gesamte Edge in Gefahr war, und sie war diejenige, die das ermöglicht hatte. Sie konnte sich damit auseinandersetzen oder sich absetzen und als das Mädchen bekannt werden, das das Edge auf dem Gewissen hatte. Das Edge verknüpfte wie ein Band über den gesamten Kontinent zwei Ozeane miteinander. Wie viele Menschen mochten dort wohl leben? Vermutlich Tausende. Diebe, Schwindler, Betrüger. Ihre Leute und deren Kinder. Deren Leben nun wegen der Habgier ihres Vaters und ihrer Probleme mit ihm auf dem Spiel stand.
    Audrey hob den Kopf. »Ich helfe Ihnen herauszufinden, wo Seamus die Diffusoren abgeliefert hat. Mehr nicht. Sobald Sie Ihr nächstes Ziel kennen, bin ich draußen. Haben wir uns verstanden?«
    Kaldar grinste. Ein echt wildes Grinsen diesmal. »Vollkommen.«

6
    Audrey besaß ein Gewissen. Sie wusste, wie sie ihre Beweggründe verbergen konnte, doch Kaldar verstand sich schon viel zu lange darauf, in Menschen hineinzusehen, um den kaum wahrnehmbaren verhärmten Zug in ihren Mundwinkeln, die gewölbten Augenbrauen und den Anflug von Trauer in ihrem Blick nicht zu bemerken. Sie fühlte sich schuldig. Vermutlich schämte sie sich sogar. Ob allerdings wegen ihrer Mitwirkung an dem Raub oder wegen der Dummheit ihrer Familie, vermochte er nicht zu sagen.
    Kaldar überlegte und wälzte Gedanken hin und her. Gewissen war eine Tugend, die zu vermeiden er sich alle Mühe gab. Sicher, manche Dinge tat man einfach nicht: Man zog kein Kind in Mitleidenschaft, nötigte keine Frau, quälte keinen Hund. Doch davon abgesehen gab es lediglich Leitlinien, die er nach Möglichkeit ignorierte. Vermutlich machte ihn das zu einem amoralischen Menschen, aber damit kam er bestens klar.
    Seine Welt war klar gegliedert: Auf der einen Seite stand die Familie. Sie war alles. Eine Zuflucht in unsicheren Zeiten. Ein Ort, an dem er stets willkommen war, was auch immer er getan hatte oder noch tun würde. Auf der anderen Seite befand sich der Rest der Welt. Wie eine reife Pflaume, die gepflückt werden wollte. Dazwischen verlief die Demarkationslinie. Wenn er sie überquerte und zu seiner Familie kam,

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