Land der Schatten: Schicksalsrad (German Edition)
überwucherte graue Findlinge. Den Pfad säumten seltsame große gelbe, eine in der anderen wachsende glockenförmige Blumen. Ein dünner Dunstschleier, der sich hier sogar bis zum hohen Mittag hielt, bedeckte den Waldboden. Alles hier wirkte luftig, wie aus einer anderen Welt, als zeige sich im Nebel vage ein Feenreich.
Unbemerkt zog Kaldar einen Flunsch. Er kannte sich im Moor aus – in jenem sich ständig verändernden Labyrinth aus Morast und Wasser mit all seinen Kräutern, Blumen und Tieren. Der Wald hier war anders, er wucherte über schroffe Berge, die aus der Erde ragten wie das Gerippe des Planeten.
Audrey bewegte sich in kundiger Hast, stieg über Wurzeln auf dem Weg und schob Farne und Zweige beiseite. Sie schritt stramm aus, was Kaldar jedoch nichts ausmachte. Er genoss die ausgezeichnete Aussicht auf ihren wohlgeformten Hintern. Ein Hintern, der durchaus einen zweiten Blick wert war.
»Wenn Sie darauf aus sind, dass mein Hinterteil für Sie Männchen macht, muss ich Sie enttäuschen«, rief Audrey über ihre Schulter.
»Woher zum Teufel wissen Sie das?« Hatte sie etwa auch Augen im Hinterkopf?
»Weibliche Intuition«, erklärte sie ihm.
»Aha, dann hat es also nichts damit zu tun, dass ich kurz hintereinander zweimal gestolpert bin?«
»Absolut nicht.«
George grinste breit. Jack, der links von ihm ging, lachte. Der Junge bewegte sich durch den Wald wie ein Fisch durchs Wasser und setzte mit geradezu unnatürlicher Leichtigkeit über Felsbrocken und Baumstämme hinweg. Der Waschbär folgte ihm rasch, rannte mal vor ihm, mal hinter ihm.
»Bleibt sie immer bei Ihnen?«
»Ling die Gnadenlose? Ja. Ich habe sie blutend vor meiner Veranda gefunden. Sie war damals noch so winzig, dass sie in eine Taschentuchpackung passte.« Audrey sah den Waschbär an. »Jetzt kommt sie überall mit hin, und manchmal bringt sie mir auch totes Ungeziefer, weil ich so eine schlechte Jägerin bin und sie mich deshalb füttern will. Und wenn ich mich verstecke, findet sie mich.«
»Immer?«
»Immer.«
Nach der nächsten Wegbiegung wichen die Bäume zurück und gaben den Blick auf einen langen, steil abfallenden, bewaldeten Abhang frei. Sie befanden sich über einer Bergflanke.
»Sie haben oft Tollwut, wissen Sie«, sagte Kaldar. »Und dieser Waschbär ist auch noch die ganze Zeit tagsüber unterwegs. Sehr ungewöhnlich. Sind Sie sicher, dass sie nicht tollwütig ist?«
»Ich war mit ihr beim Tierarzt und habe sie impfen lassen.«
»Sie können Monate infiziert sein, bevor die Tollwut ausbricht.«
»Kaldar, lassen Sie meinen Waschbären in Ruhe, oder ich schubse Sie von diesem Berg und lache mich kaputt, während Sie versuchen, sich Flügel wachsen zu lassen.« Audrey drehte sich um und setzte ihren Weg fort.
»Wie weit noch?«, fragte Kaldar.
»Sind Sie schon fix und alle?«
»Ich wette, ich bin vor Ihnen da.«
»Von wegen.«
»Sicher?« Kaldar grinste.
»Keine Wetten mehr.«
»Wie Sie wünschen.«
Audrey deutete nach links oben, auf eine mit uralten Bäumen überwucherte vorstehende Klippe. »Er wohnt da drüben. Noch eine Viertelstunde, dann können Sie Ihre empfindlichen Füßchen ausruhen.«
Er ließ ihr die Füßchen durchgehen. »Warum wird er eigentlich Gnom genannt?«
»Wegen seiner Größe. Was sonst?«, gab Audrey zurück.
Fünfzehn Minuten später traten sie auf eine kleine Lichtung hinaus. Am anderen Ende stand ein mächtiger Bau: eine zweistöckige Ruine aus denselben grauen Mauersteinen, aus denen auch das Gerüst von Audreys Heim bestand. Jede der in den Himmel ragenden Säulen zeigte ein Schlachtgetümmel, gemeinsam bildeten sie ein genau abgemessenes Rechteck mit zwei kleineren Vierecken an jedem Ende. Innerhalb des Skeletts war ein Holzhaus erbaut und überragte es stellenweise mit seinen schief verwinkelten Wänden und Räumen. Die Holzwände waren von zufällig angeordneten Fenstern aller Formen und Größen durchbrochen, als hätte irgendein Kleinkind mehrere Baukästen durcheinandergeworfen und daraus mit geschlossenen Augen ein Haus zusammengewürfelt. Moos und blühende Ranken überwucherten die Stämme, und eine Art kleines Pelztier mit rabenschwarzem Fell und langem Schwanz mit einem Puschel am Ende sauste an den Ranken bis zum Dach hinauf.
»Kommt.« Audrey hielt auf das Haus zu.
»Muss ich irgendwas über diesen Gnom wissen?«, erkundigte sich Kaldar.
»Nur dass er nicht besonders auf Auswärtige steht. Überlassen Sie mir das Reden, dann wird schon alles gut.«
Sie
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