Land der Sehnsucht (German Edition)
hatte, aufgerüttelt worden war.
Véronique erinnerte sich an den Tag, an dem sie in die Höhle geflüchtet war und Gott ihr dort den Wunsch erfüllt hatte, die Stimme ihrer Mutter wieder zu hören. Dafür war sie dankbar.
Sie tauchte die Hand wieder in den Bach und hielt ein wenig Wasser aus dem Fountain Creek in ihren beiden Händen. Im Geiste verfolgte sie den Flusslauf zurück durch die Berge, da sie nun viele Kurven und Wege seines Laufes kannte. Sie war sicher, dass das Wasser vor ihren Augen an vielen Bergbaustädten, die sie besucht hatte, vorbeigeflossen war.
Vielleicht auch an einer Stadt, durch die ihr Vater einmal gekommen war.
Papa …
Obwohl sie noch nicht in allen Bergbaustädten gewesen war, die sie auf ihrer Landkarte markiert hatte, flüsterte etwas in ihr, dass ihre Suche beendet sei. Sie hatte Gott wiederholt gebeten, ihr Gebet zu erhören. Er hatte es erhört.
Nur nicht so, wie sie es erwartet hatte.
Sie hatte ihren Vater finden und in Erfahrung bringen wollen, wer er war. Stattdessen waren ihr hier in Willow Springs die Augen dafür geöffnet worden, wer sie selbst war.
Oder besser gesagt, wer sie nicht war.
Véronique holte tief Luft und atmete langsam wieder aus. In diesem Moment sah sie es.
Unter dem Unkraut und dem hohen Gras versteckt, befand sich ein kleines Holzkreuz. Es wurde nur von einem Seil zusammengehalten und steckte gleich neben der Stelle, an der sie kniete, schief in der Erde.
Sie trat zu dem Grab und begann das Unkraut zu beseitigen. Einiges war schwerer auszureißen, da die Wurzeln tief reichten. Aber einiges ließ sich leicht entfernen.
Als sie die Erde ein wenig von dem Pflanzenwuchs befreit hatte, bemerkte sie die Umrisse von Steinen, die um das Grab herum lagen. Sie waren in die Erde gedrückt worden und bildeten ein Oval, das nicht länger als sechzig Zentimeter war. Sie entfernte die Erde, die die Steine bedeckte. Bei jeder Handbewegung sah sie das Grab ihrer Mutter in Paris auf der anderen Seite der Erde vor sich.
Aber noch deutlicher sah sie vor sich, wo ihre Mutter jetzt war.
Véronique richtete das Kreuz auf. Das war keine leichte Aufgabe, da das Holz tiefer in der harten Erde steckte, als sie erwartet hatte. Es stand kein Name darauf. Kein Geburts- oder Sterbedatum. Aber aus der Größe des Grabes schloss sie, dass hier ein kleines Kind zur Ruhe gebettet worden war.
Sie stand auf und wischte sich die Hände ab. „Tod, sei nicht stolz“, flüsterte sie. „Hast keinen Grund dazu. Bist gar nicht … mächtig … stark, wie mancher spricht.“ Sie rezitierte das Sonett mit so viel Gefühl, mit so viel Zuversicht wie noch nie zuvor. „Du tust uns nichts; auch mich …“
„… tötest du nicht. Die du besiegt wähnst, warten nur in Ruh.“
Als sie Jacks Stimme hinter sich hörte, traten ihr Tränen in die Augen. Sie war nicht sicher, ob er schon gehört hatte, was passiert war, aber sie wusste genau, wie schnell sich in einer so kleinen Stadt Gerüchte verbreiteten, und konnte ihm nicht in die Augen schauen.
„Möchtest du weitersprechen?“ Er trat näher.
Die Zärtlichkeit in seiner Stimme tat ihr gut. Sie schloss die Augen. „Non … ich würde lieber dir zuhören.“
Jack trat neben sie, und sie hörte zu, während er den Rest des Sonetts zitierte. Die Worte nahmen im tiefen Klang seiner Stimme eine neue Bedeutung an, und sie erinnerte sich an etwas, das er vor einer Weile gesagt hatte. Sie wartete, bis er fertig war.
„Nach kurzem Schlaf erwachen wir zur Ruh.“ Jack ergriff ihre Hand. „Und mit dem Tod ist’s aus: Tod, dann stirbst du.“
Sie schaute seine Hände an. „Als wir uns kennenlernten, fragte ich dich, ob du einen Menschen verloren hast, der dir nahe stand. Du hast mir damals keine Antwort gegeben. Jetzt hast du sie mir gegeben. Wen hast du verloren?“
Die Muskeln um seinen Mund spannten sich an. Seine Hand legte sich fester um ihre. „Meine Frau und meinen Sohn.“
Kapitel 40
Jacks Worte hingen in der Luft, und mit jeder Sekunde, die er auf eine Reaktion von Véronique wartete, wurden sie schwerer.
Vor wenigen Minuten hatte er, als er auf dem Weg aus der Stadt heraus nach Casaroja an der Kirche vorbeifuhr, eine Frau auf dem Friedhof entdeckt. Zuerst hatte er sie nicht erkannt. Aber etwas hatte ihn veranlasst, langsamer zu fahren. Als er die Anmut, mit der sie sich bewegte, gesehen und beobachtet hatte, wie sie sich die Haare aus dem Gesicht strich, hatte er es gewusst.
An diesem Ort hätte er sie am allerwenigsten
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