Land der Sehnsucht (German Edition)
einem zittrigen Lächeln. „Danke, dass du mir diese Verlegenheit ersparst.“
Die junge Lilly ging ihr auf dem Holzgehweg in die entgegengesetzte Richtung voran. Véronique fiel auf, dass das Humpeln des Mädchens heute stärker war als sonst.
Lilly sah hinter sich, als sie sich der Straßenecke näherten. „Sie stehen schon eine ganze Stunde da und warten auf Sie. Mr Baird sagte, in diesem ganzen Haufen befinde sich kein einziger anständiger Mann.“ Sie deutete nach rechts. „Sicherheitshalber biegen wir hier ab und gehen dann durch die andere Straße zurück. Wir können den Hintereingang des Hotels benutzen. Wo waren Sie eigentlich? Als ich heute Morgen ins Hotel kam, waren Sie schon fort.“
„Ich habe … die Anzeigen wegen meines Vaters aufgehängt.“ Véronique wand sich innerlich, als sie das sagte, da ihr bewusst wurde, dass sie mit Monsieur Baird vorher darüber hätte sprechen sollen. Sie blickte hinter sich. „Monsieur und Madame Baird sind wütend auf mich, nicht wahr?“
Lillys Augen wurden groß. „Nein, Mademoiselle Girard, sie sind überhaupt nicht verärgert. Glauben Sie mir. Ich habe Mr Baird erklärt …“
Sie blieben stehen, um vor sich eine Frau und ein kleines Mädchen in ein Geschäft gehen zu lassen. Véronique legte den Kopf zurück, um das Schild über der Tür zu lesen: Susannas Bäckerei und Konditorei. Die verlockenden Sachen im Schaufenster weckten ihren Appetit und erinnerten sie, dass seit dem Frühstück schon einige Zeit vergangen war.
„Ich habe Mr Baird erklärt“, fuhr Lilly fort, „dass ich Sie ermutigt habe, diese Anzeige zu schreiben, und dass keiner von uns auf die Idee gekommen wäre, dass so etwas passieren könnte.“
„Und wie hat Monsieur Baird auf deine Erklärung reagiert?“
Lilly blieb auf dem Gehweg stehen. Ihre Miene wurde ungewöhnlich ernst. „Er sagte, wenn wir in einer Männerwelt mitspielen wollen, müssen wir auch lernen, wie ein Mann zu denken.“
Véroniques Kinnlade fiel nach unten. Sie konnte nicht glauben, dass der nette Monsieur Baird so etwas sagen würde. Dann bemerkte sie, dass die strengen Linien um Lillys Mund anfingen zu zucken.
„Das war nur ein Scherz, Mademoiselle Girard!“, lachte Lilly. „Er sagte, ich soll Ihnen ausrichten, dass Sie sich keine Sorgen machen müssen, aber dass wir doch bitte darauf verzichten sollen, noch mehr Anzeigen aufzuhängen.“ Sie beugte sich näher zu ihr. „Wenigstens so lange, bis die Männer aus der Lobby verschwunden sind.“
Véronique lächelte erleichtert und stieß Lilly spielerisch an die Schulter. „Ich muss immer noch lernen zu unterscheiden, wann ich glauben kann, was du sagst, und wann du mich auf den Arm nimmst.“
„Mein Papa sagt immer, sobald ich den Mund aufmache, muss man auf der Hut sein.“ Sie lächelte. „Aber das heißt, dass wir wahrscheinlich losgehen und die Anzeigen, die wir aufgehängt haben, wieder abnehmen müssen.“
Sie verbrachten die nächste Stunde damit, genau das zu tun, bevor sie in Richtung des Hotels zurückgingen. Véronique warf einen Blick auf Lilly, die neben ihr her ging. Es tat gut, hier an diesem Ort eine Freundin zu haben, auch wenn sie so jung war. Sie vermisste Christophes Freundschaft.
Sie hatte von ihm nichts mehr gehört, seit sie bei ihrer Ankunft in New York City seine Briefe erhalten hatte. Sie beschloss, ihm noch in dieser Woche zu schreiben. Aber war er noch in Brüssel? Oder war er mit Monsieur Marchand und seiner Familie nach Paris zurückgekehrt? Sie entschied sich, dass es das Beste wäre, den Brief an die Familienadresse der Marchands zu schicken und zu hoffen, dass ihr großes Haus noch unversehrt war.
„Wenn Sie morgen noch nichts vorhaben – Lilly riss eine Anzeige von einem Pfosten neben dem Kurzwarenladen –, würden sich meine Eltern freuen, wenn Sie nach dem Gottesdienst zu uns zum Mittagessen kämen. Sie können es nicht erwarten, Sie kennenzulernen.“
Véronique blieb stehen und machte einen tiefen Knicks. „Ich nehme Ihre Einladung sehr gerne an, Mademoiselle Carlson. Und ich freue mich darauf, deine Familie kennenzulernen.“
Lilly grinste. „Würden Sie mir bitte beibringen, wie man das macht?“
Als sie begriff, was das Mädchen meinte, schaute Véronique nach unten und musste an die Beinschiene des Mädchens denken. Schnell richtete sie ihren Blick wieder nach oben, da sie Lilly auf keinen Fall verunsichern wollte. „Du willst, dass ich dir zeige, wie man einen Knicks macht?“
Lilly nickte.
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