Land der Sehnsucht (German Edition)
gut.“
Véronique war überrascht zu hören, dass das Mädchen um diese Zeit noch arbeitete. „Die Treppe stellt für sie eine Herausforderung dar?“ Sie formulierte es eher als Frage und weniger als die Tatsache, die sie schon bemerkt hatte.
Er nickte. „Ja, in letzter Zeit wird es schlimmer, aber Lilly lässt sich nichts anmerken. Sie kämpft einfach weiter und klagt nie. So war sie schon immer. Deshalb tut es mir umso mehr leid, wenn ich daran denke, was sie erwartet.“ Er blinzelte. Dann sah er zu Boden und räusperte sich. „Sie ist ein wirklich gutes Mädchen. Ihre ganze Familie sind gute Menschen. Nun … ich wünsche Ihnen eine angenehme Nacht, Madam. Schlafen Sie gut.“
„Bonsoir, Monsieur Baird. Das wünsche ich Ihnen auch.“ Véronique schloss die Tür, lehnte sich daran und fragte sich, was der Hotelbesitzer mit der Bemerkung über Lillys Zukunft gemeint haben könnte und ob es mit der Schiene an ihrem Bein zu tun hatte. War Lilly mit dieser Behinderung auf die Welt gekommen? Oder war sie die Folge eines späteren Unfalls? Das Mädchen ging jedoch so gut mit ihrer Behinderung um, dass Véronique vermutete, dass Lilly schon länger damit zu tun hatte.
Sie ging zum Schrank und holte ihr Nachthemd heraus. Sie hatte am Nachmittag ausgepackt. Diese Arbeit hatte ihre Gedanken wenigstens für kurze Zeit abgelenkt. Der bescheidene Schrank hatte nicht einmal für die Hälfte ihrer Kleider Platz, und der Rest lag über einem Sessel und wartete darauf, ausgebürstet zu werden. Nachdem sie die Blumenvorhänge vor dem offenen Fenster zugezogen hatte, zog sie sich aus.
Die Seide ihres Nachthemds wärmte sie nicht. Sie schlüpfte zwischen die kühlen Bettlaken und zog die Quiltdecke bis an ihr Kinn. Obwohl es nicht besonders kalt im Zimmer war, fröstelte sie. Sie war müde, konnte aber noch nicht schlafen, also nahm sie John Donnes Andachten zur Hand. Das Buch fiel genau an der Stelle auf, die sie suchte.
Ihr Blick wanderte zu der unterstrichenen Zeile: „,Niemand ist eine Insel ganz für sich; jeder Mensch ist ein Stück des Kontinents, ein Teil des Festlands.‘“
Sie brach ab und las den Satz schweigend noch einmal. In der Stille der Nacht hörte sie vor dem Fenster das ferne Plätschern des Fountain Creek, das in der Nachtluft wie Musik klang.
Nach einer Weile las sie weiter: „,Wenn ein Erdklumpen ins Meer gespült wird, wird Europa weniger, genauso als wenn’s eine Landzunge würde, oder ein Landgut deines Freundes oder dein eigenes. Jedes Menschen Tod ist mein Verlust, denn ich bin Teil der Menschheit; und darum verlange nie zu wissen, wem die Stunde schlägt; sie schlägt dir selbst.‘“
Als sie Donnes vertraute Prosa las, wurde sie daran erinnert, dass kein Mensch wirklich isoliert oder je ganz allein war. Es half ihr, die Einsamkeit, die sie fühlte, zu vertreiben. Hatte Donne geahnt, dass seine Worte noch lange nach seinem Tod weiterleben würden? Ihr gefiel der Gedanke, dass er es gewusst haben könnte.
„Mademoiselle Girard, ich fühle mich geehrt, dass Sie mir Ihre Sicherheit anvertrauen, aber dieser Vorschlag ist einfach unrealistisch, und zwar aus mehr Gründen, als ich Ihnen aufzählen möchte …“
Die Worte, die sie heute gehört hatte, drängten sich mit frustrierender Klarheit in ihre Gedanken, genauso wie die Erinnerung an Monsieur Brennans entschlossene Haltung. Wenn ihr nur etwas einfiele, womit sie ihn umstimmen könnte. Bei genauerem Nachdenken erschien ihr Monsieur Brennan jedoch nicht als ein Mann, der sich so leicht von einer einmal gefassten Meinung abbringen ließ.
Sie legte das Buch neben sich auf den Nachttisch, blies vorsichtig die Petroleumlampe aus und rollte sich dann auf die Seite. Abgesehen von dem schwachen Schein des Mondlichts, das auf das Fußende ihres Bettes fiel, war das Zimmer in Dunkelheit gehüllt.
Sie zog die Beine an und wünschte sich, sie hätte in dem dunklen Kamin ein Feuer brennen oder wenigstens den Bettwärmer, den sie in kalten Nächten im Haus der Marchands immer zwischen den Laken gefunden hatte. Sie legte einen Arm unter ihr Kissen. Der Bettwärmer war immer da gewesen, wenn sie ihn gebraucht hatte. Aber sie hatte sich nie gefragt, wie er in ihr Bett gekommen war.
Wer hatte die ganzen Jahre die Ziegel für ihr Bett aufgewärmt?
Während sie Francette Marchand geholfen hatte, sich fürs Bett fertig zu machen, war ihr eigenes Zimmer nebenan vorbereitet worden. Gesichter von Dienstboten tauchten vor ihrem geistigen Auge auf, aber
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