Land des Todes
seine Arme übersäten, sie trat ihm gegen die Schienbeine, sie riss ihm ganze Haarbüschel aus. Nichts, was meine Mutter sagen oder tun konnte, änderte etwas an ihrem Verhalten. So sehr ich an Linas Launen gewöhnt war, ich war entsetzt: Dies war im Vergleich zu ihren Wutanfällen etwas völlig anderes. Diese Quälereien waren gnadenlos, entsprangen tiefer Verbitterung, und nie folgte auf sie versöhnliches Gelächter, um die Stimmung zu heben.
Als wir alle bereits matt vor Erschöpfung und Verzweiflung waren, verzog sich das Unwetter ohne Vorwarnung. Lina kam spät zum Frühstück herunter, im Gesicht die mittlerweile übliche finstere Miene. Als sie sich setzte, schien ein Sonnenstrahl durch die Wolken und fiel über den Tisch. Der Strahl brach durch die Glaskaraffe, verstreute ein Farbspektrum über das weiße Tischtuch und entlockte dem Silberbesteck ein gleißendes Funkeln. Als er Linas Gesicht erfasste, schaute sie voll unverhoffter, strahlender Freude auf; jener verirrte Sonnenstrahl hatte ihre düstere Stimmung durchdrungen undvernichtet. Zufällig begegnete ihr Blick dem von Damek, und sie erstarrte. Ich weiß nicht, was sich in jenem Moment zwischen den beiden abspielte. Ich erinnere mich daran, dass sie dort saß, reglos, als stünde die Zeit still, mit einem Lächeln auf den Lippen. Ihre Augen waren ernst und dunkel, doch es sprach keine Feindseligkeit aus ihnen. Vielmehr sah sie so aus, als wäre ihr etwas Wichtiges eingefallen, das sie vergessen gehabt hatte.
Ich habe mich oft gefragt, was geschehen sein mag, als Lina von jenem abtrünnigen Sonnenstrahl gestreift wurde. Es war eine so winzige Begebenheit, und doch veränderte sie unser aller Leben. Sie wollte es mir nie verraten, und wenn ich sie direkt danach fragte, lachte sie nur und meinte, dass jemand wie ich es nie verstehen würde. Ich bin nicht sicher, ob sie es überhaupt hätte erklären können. Ich vermute, dass in diesem Moment offenmütiger Freude ihre Seele eine Tür aufschwang und es ihr zum ersten Mal ermöglichte, Damek wirklich zu sehen. Aber was sah sie? Vielleicht einen Bruder, den dieselbe Leidenschaft bewegte wie sie? Eine wilde, verwandte Seele, die sich gegen die unerbittlichen Gesetze auflehnte, nach denen wir lebten? Einen Willen so stur und hartnäckig wie der ihre? Erst viel später wurde mir klar, wie einsam sich Lina gefühlt hatte. Selbst mir, die ich ihr näherstand als irgendjemand sonst, gelang es nicht immer, sie zu verstehen. Womöglich war es dieses Gefühl der Ausgrenzung, das ihre kindlichen Tobsuchtsanfälle schürte: Wenngleich jeder Mensch geliebt werden möchte, sehnen wir uns vielleicht noch mehr nach Verständnis.
Zum ersten Mal seit Tagen verlief das Frühstück friedlich. Lina zeigte sich ungewöhnlich gesittet und höflich. Sie spielte wieder die im Süden geborene Lady, sagte bitte und danke, statt hochmütig meine Dienste zu fordern und mich zu schlagen, wenn ich zu langsam war – ein Verhalten, das ich nicht ohne scharfen Tadel hinnahm, den sie zwar ignorierte, der jedoch meinen Ärger ein wenig linderte. Mit Damek sprachsie nicht, doch am Ende der Mahlzeit, als sie ihren Stuhl zurückschob, um den Tisch zu verlassen, begegneten sich ihre Blicke erneut, und sie nickte ihm unmerklich zu, bevor sie ging. Damek schien mir sehr berührt zu sein, soweit ich es aus seiner teilnahmslosen Miene ablesen konnte, und es dauerte nur wenige Augenblicke, bis er die Serviette auf den Tisch legte und ebenfalls ging.
Als ich hinter den beiden aufräumte, holte ich tief Luft. Vielleicht bedeutete dies das Ende des Sturms, und unser kleiner Haushalt könnte zu einem unbeschwerteren Ort werden. Ich hatte Pflichten zu erfüllen und sah die beiden den ganzen Vormittag lang nicht. Deshalb verblüffte es mich sehr, als Lina und Damek gemeinsam zum Mittagstisch kamen und sich setzten, als wären sie innige Freunde.
»Was!«, stieß ich hervor. »Reden Sie endlich mit Ihrem Bruder, Fräulein Lina?«
»O Anna, er ist nicht mein Bruder!«, gab Lina zurück. »Das war der Irrtum. Er ist mein Freund .« Mit einem strahlenden Lächeln beugte sie sich vor, um ihm auf überaus liebenswürdige Weise eine Haarsträhne aus den Augen zu schieben. »Sind wir nicht die besten Freunde, Damek?«
Er murmelte zur Erwiderung etwas, das ich nicht verstehen konnte. Lina lachte und drehte sich mir zu.
»Ich bin sicher, er wird bald weniger griesgrämig sein«, sagte sie zu mir. »Es liegt nur daran, dass er schüchtern ist.« Da sah
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