Land des Todes
missbilligte meine Ausbildung. Sie hätte es nie gewagt, dem Master zu widersprechen und befolgte stets seinen Willen, aber ich glaube, keine seiner Entscheidungen hat sie mehr erzürnt als diese. Sie meinte, ein Zuviel an Bildung würde mir hinsichtlich meines Rangs Flausen in den Kopf setzen und mich von meinen Wurzeln entfremden. In dieser Hinsicht erwies sich ihr Gespür als zutreffend. Obwohl ich nicht behaupten kann, darunter gelitten zu haben, stand ich immer ein wenig abseits der Dinge oder befand mich irgendwie dazwischen: Ich war weder dem Norden noch dem Süden gänzlich zuzuordnen, und ich war weder eine ungebildete Dienstmagd noch eine Adelige. Einst, als ich jung und töricht war, wünschte ich mir tatsächlich, wie alle anderen zu sein und mich besser einfügen zu können. Doch ich hatte das Glück, einen guten Mann zu heiraten, der meine Tugenden erkannte, und ich führe bis heute ein anständiges Leben voll harter Arbeit, was mehr ist, als so mancher meines Standes behaupten kann.
Aber ich muss mich entschuldigen; ich schweife ab.
Nach jenem denkwürdigen Frühstück kam Damek Linas Sklaven gleich. Ich beobachtete die beiden misstrauisch und konnte nicht glauben, dass es sich um mehr als eine Laune ihrerseits handelte, doch alles, was ich sah, waren Lieblichkeit und Unbeschwertheit. Auf Damek hatte ihre Freundschaft gehörigen Einfluss. Ich halte es für wahrscheinlich, dass er nie zuvor eine Freundin oder einen Freund hatte. Wie bei allem legte Lina auch in diese Beziehung die ganze Kraft ihrer Leidenschaft, und jeder Widerstand, den er dagegen empfunden haben mochte, schmolz rasch dahin. Damals überraschte mich seine schnelle Kapitulation – angesichts all der blauen Flecken hätte ich meinen Groll wesentlich länger gehegt.Mittlerweile jedoch hegte ich den Verdacht, dass die beiden sich nie so nahe gekommen wären, wenn Lina sich anfangs nicht so grausam verhalten hätte, und dass ein Teil seiner Achtung für sie von seinen Erfahrungen mit ihrem dämonischen Temperament herrührte.
Geduldig und mit ihrer seltenen Sanftmut holte sie ihn aus seiner verdrossenen Schweigsamkeit, und er wurde mehr und mehr wie andere Jungen seines Alters. Sie bezog ihn in ihre Spiele und Streiche mit ein, und wenngleich er seine Wachsamkeit nie ganz ablegte, sahen wir sein Gesicht in jenen Tagen zum ersten Mal durch ein Lachen belebt. Ich weiß, man wird mir nicht glauben, aber ich begann selbst, Damek zu mögen; er war ein gutaussehender Junge und konnte ein liebenswerter Spielgefährte sein. Mir tut leid, was aus ihm geworden ist. Vielleicht war dies in jedem Fall sein Schicksal, aber ich glaube, er hätte ein anderer Mann werden können, hätten sich die Dinge anders entwickelt.
Lina und Damek verschwanden oft stundenlang und kehrten mit zerrissenen, vor Schlamm starrenden Kleidern und vor geheimem Schabernack leuchtenden Augen zurück. Ihre Mätzchen trieben meine Mutter zur Verzweiflung. Das Verhalten der beiden war nicht nur unschicklich, es bereitete Mutter auch noch zusätzliche Arbeit, da sie fortan doppelt so viel Wäsche zu waschen und zu stopfen hatte. Mich bewegten weniger pragmatische Überlegungen. Um es unverblümt auszudrücken: Ich war eifersüchtig. Die beiden stahlen sich zu ihren Ausflügen davon, ohne jemandem etwas zu sagen, und wenn sie nach Hause zurückkehrten, tuschelten sie miteinander wie Verschwörer. Ich wurde aus Linas persönlicher Welt ausgeschlossen und spürte meine Verbannung schmerzlich.
Eines Tages ertappte ich sie dabei, wie sie das Haus verlassen wollten, obwohl ich wusste, dass es ihnen ausdrücklich verboten worden war. Ich verlangte, dass sie mich mitnähmen, weil ich es sonst meiner Mutter sagen würde. Lina starrte mich ungeduldig an und biss sich auf die Lippe.
»Warum willst du mitkommen, Anna? Du weißt doch, dass du keinen Spaß dabei hättest.«
»Hätte ich wohl«, widersprach ich.
»Hättest du nicht«, beharrte sie. »Wir machen nichts Besonderes, nicht wahr, Damek? Wir rennen bloß am Fluss durch den Wind. Ich weiß, dass du nicht gerne rennst. Du würdest nur außer Atem geraten, uns den Spaß daran verderben, und wir müssten zurück nach Hause.«
»Ich würde gar nichts verderben!«, behauptete ich hitzig.
Lina wechselte einen Blick mit Damek, den ich nicht zu deuten vermochte, doch die Vertrautheit, die darin lag, schürte meine Eifersucht nur noch mehr. Damek zuckte mit den Schultern. »Komm mit, wenn du willst«, sagte er. »Du wirst nur in
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