Land des Todes
ich, wie sich Dameks Hals rötete. »Aber er hat mir meinen Mangel an Manieren verziehen.«
»Tja, dann ist er ein besserer Mensch als Sie, Fräulein Lina«, meinte ich. »Sehen Sie sich nur die blauen Flecken an Herrn Dameks Arm an! Schämen Sie sich!«
Ohne jede Verlegenheit warf Lina den Kopf zurück. »Wenn es ihn nicht stört, wüsste ich nicht, wieso es dich stören sollte, Anna. Und du bist ohnehin nur eine Dienstmagd. Solche Äußerungen stehen dir nicht zu.«
Lina hatte noch nie zuvor auf ihren Rang gepocht – es wareine Art unausgesprochene Vereinbarung zwischen uns –, und so verletzte mich ihre Äußerung. Ich hatte den Mund bereits geöffnet, um meine Verärgerung kundzutun, als meine Mutter das Zimmer mit einer gebratenen Pfauenhenne betrat und unserer Unterhaltung ein Ende bereitete. Danach kam und ging ich abwechselnd, während ich die beiden bediente. Linas letzte Bemerkung schmerzte noch immer, und ich fürchte, ich gab mich übertrieben förmlich, wenngleich ich überzeugt davon war, dass es Lina gar nicht auffiel. Ich beobachtete die Veränderung ihres Verhaltens gegenüber Damek mit Erstaunen, konnte nicht glauben, dass sie es aufrichtig meinte. Sie zog sogar ihren Stuhl näher an seinen heran und murmelte ihm während des Essens zu, wobei ihre Augen schelmisch funkelten. Er sprach sehr wenig, nickte nur ab und an zur Erwiderung, und ich fragte mich argwöhnisch, welche Teufelei sie nun wieder aushecken mochte.
Ich muss gestehen, dass sich in meinem Herzen ein leichter Schmerz der Eifersucht ausbreitete, als ich die beiden wie Verschwörer beisammensitzen sah. Trotz aller Unterschiede im Hinblick auf unseren Rang und unser Temperament hatten Lina und ich uns immer nahegestanden. Und nun schien es, als ersetzte sie mich in ihrem Herzen durch diesen mürrischen, geheimnisvollen Burschen.
V
Es ist schwierig, sich genau an die Dinge zu erinnern. All das hat sich vor so langer Zeit zugetragen, und wenn ich heute darüber nachdenke, scheine ich viele wichtige Einzelheiten vergessen zu haben, während andere, die belanglos wirken mögen, lebhaft aus den Schatten hervortreten.
Ich war, das müssen Sie wissen, ein höchst gewöhnlichesKind ohne frühreife Fähigkeiten. Ich erfuhr all die üblichen kindlichen Sorgen und Freuden, und mein Leben verlief größtenteils ohne bemerkenswerte Zwischenfälle oder Tragödien. Lina lachte mich regelmäßig wegen meines gleichmütigen Wesens aus und meinte, ich besäße die Empfindsamkeit eines Holzstocks, und als kleines Mädchen hatte ich tatsächlich das Gefühl, neben ihrer strahlenden Flamme eine trübe Lampe zu sein, die nur Schatten warf. Doch trotz alledem beneidete ich sie nie; ich wäre jederzeit lieber ich als sie gewesen. Was an sich eine glückliche Fügung ist, weil ich in dieser Hinsicht ohnehin keine Wahl gehabt hätte.
Was meine Bildung anging, hatte ich mehr Glück als die meisten meinesgleichen, denn als der Master für Lina und Damek einen Lehrer aus dem Süden anstellte, wies er ihn an, auch mich zu unterrichten. Dabei handelte es sich nicht etwa um eine großzügige Entscheidung des Masters, obwohl ich zweifellos davon profitierte; seine Freundlichkeit diente fast immer eigenen Interessen.
Man konnte Lina bestenfalls als gleichgültige, launische Schülerin bezeichnen, insofern betrachtete sie den Unterricht – wie vermutlich auch ihr Lehrer – als Foltermittel, eigens dazu ersonnen, ihre sehnlichsten Wünsche zu enttäuschen. Selbst die Missbilligung ihres Vaters, die Lina tagelang in ein Jammertal stürzen konnte, trug wenig dazu bei, ihr die Notwendigkeit, Verben oder Geschichte zu lernen, schmackhaft zu machen, obwohl sie Damek als Gesellschaft dabei hatte. Als jedoch ich zum vormittäglichen Unterricht stieß, schürte dies ihr natürliches Wettbewerbsdenken, denn sie konnte es nicht ertragen, hinter einer Dienstmagd zurückzustehen. Ich genoss den Unterricht und errang gelegentlich sogar ein Lob des Lehrers, was Lina dazu bewog, sich mit wilder Entschlossenheit in die Arbeit zu stürzen.
Und so begab es sich, dass ich das Lesen erlernte, wodurch mir ein großer Trost und eine große Freude im Leben beschert wurden. Es ist nicht geprahlt, wenn ich sage, dassich vermutlich zu den belesensten Menschen auf dem Plateau zähle, denn der Master besaß eine hervorragende Bibliothek und ließ mich lesen, was ich wollte. Wie so vieles in meinem Leben veränderte mich das und unterschied mich von meinesgleichen. Meine Mutter
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