Land des Todes
in Wirklichkeit wohl kaum mehr als eine Woche andauerte.
Nachdem er Damek unserer Obhut übergeben hatte, brach der Master schon am nächsten Tag wieder auf, und Lina gab dem Jungen völlig grundlos die Schuld daran. In ihren Augen bestätigte die Abreise ihres Vaters lediglich, wie bösartig Damek war; sie hasste ihn zutiefst und tat ihr Möglichstes, um ihn dazu zu bringen wegzulaufen.
Das gestand sie mir am ersten Morgen. »Wir wollen ihn hier nicht haben, oder, Anna?«, fragte sie, als ich ihr Haar bürstete. »Er ist bloß ein schmutziger Bauerntölpel. Sieh dir nur seine Haut an! Warum hat Papa mir das angetan?«
»Ich bin sicher, er hat seine Gründe«, erwiderte ich. »Der König …«
»Ach, der König!«, fegte Lina meinen Einwand ungeduldig hinfort. »Was kann den König schon ein Bastard von niedriger Geburt kümmern?«
Ich war entsetzt und mahnte sie, etwas mehr Respekt zu zeigen. Im Hinterkopf hatte ich dabei vor allem Ezra und sein Gerede von einem geheimnisvollen Waffenstillstand. Obwohl ich die Machenschaften der Erwachsenen nicht durchschaute, die sich in einer mir unverständlichen, undurchsichtigen Welt abspielten, war ich unwillkürlich davon überzeugt, dass Dameks Anwesenheit und die düstere Warnung des Zauberers miteinander in Verbindung standen.
»Ich werde ihn dazu bringen, wegzulaufen«, verkündete sie. »Ich hasse ihn. Ich will keinen Bruder. Und wenn er fortläuft, kann Papa nichts dagegen tun. Das ist dann nicht seine Schuld, oder? Wie könnte ihm der König daraus einen Vorwurf machen?«
Ich begann ihr zu erklären, dass es Schande über unser Haus brächte, wenn Damek wegliefe, aber Lina warf nur den Kopf zurück und entgegnete, das sei ihr egal. Und nichts, was ich in den folgenden Tagen sagte, konnte sie dazu bewegen, die Ehre des Königs oder ihres Vaters zu berücksichtigen.
Ihre Strategie war einfach: Sie gebärdete sich jedem in ihrem Umfeld gegenüber so unangenehm wie möglich. Das genügte, um den Haushalt in ein Fegefeuer zu verwandeln: Lina mit einer Miene gleich einer Gewitterwolke am Frühstückstisch sitzend, wo sie ihren Teller nach Damek warf und ihn mit heißem Haferbrei verbrühte; Lina brüllend im Durchgang stehend und meine Mutter tretend, die versuchte, sie davon abzuhalten, Damek an den Haaren zu ziehen; Lina brütend im Empfangszimmer, von wo sie schwarze Wellen der Verdrossenheit durchs Haus sandte, sodass alle gereizt, ungeduldig und mürrisch wurden.
Jener Teil von mir – ein sehr kleiner Teil –, der Lina nicht unerträglich fand, bewunderte ihre Hartnäckigkeit im Angesicht jeder Schelte und Strafe; sie ließ keinen Moment lang von ihrer unerbittlichen Feindseligkeit ab. Manchmal frage ich mich, ob sich in jener Woche die ersten Anzeichen ihrer Kräfte zeigten, denn wenn sie einen Raum betrat, zuckte jeder angesichts der düsteren Energie zusammen, die sie begleitete. Sogar, als meine Mutter – deren Geduldsfaden letztlich durch Linas Trotzköpfigkeit riss – sie mit einem Gürtel verprügelte und sie einen Tag lang ohne Mahlzeiten in ihr Zimmer einschloss, brüllte und kreischte Lina stundenlang, bis sie heiser wurde, und sie hämmerte an die Tür, bis ihre Knöchel bluteten. Meine Mutter ließ sie nur heraus, weil sie fürchtete, das Mädchen könnte ernsthaft Schaden nehmen, und ich erinnere mich lebhaft an das triumphierende Funkeln in Linas Augen, als sie herausstapfte. Danach machte sie sich sogleich daran,Damek zu suchen und schlug ihm ins Gesicht, weil er dafür verantwortlich war, dass man sie eingesperrt hatte.
Ich muss gestehen, obwohl ich Damek in jenen ersten Tagen nicht mögen konnte, bewunderte ich, wie er seine Verfolgung durch Lina ertrug. Sogar, als sie ihn mit Haferschleim bewarf, reagierte er nicht; er starrte sie nur mit ausdrucksloser Miene an und wischte sich den Brei aus den Augen. Kein einziges Mal versuchte er, zurückzuschlagen. Er antwortete nie auf die grässlichen Schimpfwörter, mit denen sie ihn belegte, und er beschwerte sich nie. Ein paar Mal sah ich in seinen Augen etwas aufblitzen, das auf gefährliche, unversöhnliche Wut schließen ließ, doch er unterdrückte es jedes Mal sofort. Seit damals frage ich mich, wo er diese Gleichmut gelernt hat. Ich vermute, er kam von einem Ort, an dem er viele Grausamkeiten erlitten hatte. Seine Ungerührtheit erzürnte Lina nur noch mehr, was er vermutlich wusste, und spornte sie zu weiteren extremen Maßnahmen an: Sie zwickte ihn, bis schwarze und grüne Flecken
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