Land des Todes
innige Freundschaft sogar noch stärker werden zu schien. Damit brachen sie zwar all unsere kindlichen Gesellschaftsregeln, doch sie bildeten eine Ausnahme, mit der wir Kinder leben konnten. Mädchen spielten nicht mit Jungen, doch bei Lina und Damek war das etwas anderes. Die Erwachsenen betrachteten dies mit weniger duldsamem Blick. Gelegentlich verschwand das Paar immer noch einen ganzen Tag lang, brach noch vor dem Morgengrauen mit Lebensmitteln auf, die sie für ihr Mittagessen aus der Küche stibitzt hatten. Nicht einmal die Missbilligung von Lord Kadar vermochte sie davon abzuhalten, und sein Missfallen wuchs und wuchs.
Einmal, nach einer besonders strengen Schelte, tröstete ich Lina, die sich verzweifelt auf ihr Bett geworfen hatte. Als sie zu schluchzen aufhörte, fragte ich sie, weshalb sie sich ständig dem Willen ihres Vaters widersetzte, wenn sein Zorn sie doch so unglücklich machte.
»Es ist so ungerecht!«, antwortete sie und hob das tränenverschmierte Gesicht vom Kissen. »Wären Damek und ichbeide Jungen, würde niemand auch nur Notiz davon nehmen.«
»Aber Sie sind kein Junge, Fräulein Lina«, gab ich zu bedenken.
»Nein, bin ich nicht. Ich bin das unglücklichste Ding auf der Welt.« Sie setzte sich auf und wischte sich mit den Händen über die Augen. »Gott muss mich sehr hassen, dass er ein Mädchen aus mir gemacht hat.«
»Es ist ja nicht so, dass Damek und Sie nicht zu Hause miteinander reden könnten«, meinte ich vernünftig. »In diesem Fall würde niemand etwas sagen.«
Mit funkelnden Augen richtete sich Lina weiter auf. »Ich hasse es, in diesem Haus eingesperrt zu sein wie … wie eine Bruthenne oder ein Schwein in einem Stall. Spürst du es nicht, Anna? Manchmal kann ich es nicht ertragen. Ich muss einfach weg, sonst platze ich.«
In der Regel hatte ich wenig Geduld mit Linas allzu theatralischen Auftritten, aber diesmal verspürte ich einen Anflug von Mitgefühl. Auch ich fühlte, wie mich die häuslichen Mauern immer weiter einengten, je näher mein Frauendasein rückte. Ich zögerte, wusste nicht recht, was ich erwidern sollte, da ergriff Lina meine Hand.
»Manchmal will ich den Wind im Gesicht, den Regen im Haar und die Erde unter meinen Füßen spüren. Ich brauche das so sehr, dass ich vor Verlangen sterben könnte … Und wenn Damek und ich auf den Ebenen sind, weit und breit kein einziges Haus in Sicht, über uns der Himmel in all seiner Pracht, unter uns der Felsboden, der tiefer hinabreicht, als man es sich vorstellen kann, und wir dazwischen, so leicht wie Frühlingsblüten – dann fühle ich mich so lebendig! Dann bin ich frei, Anna … Das sind die einzigen Augenblicke, in denen ich frei bin …«
Nicht nur das, was sie sagte, sondern auch die Leidenschaft, mit der sie es aussprach, überstiegen mein Verständnis. Ich empfand dieselbe Unruhe, die mich Jahre davor heimgesucht hatte, als ich Dameks Bewunderung für Lina bemerkte; vielleicht war es eine dumpfe Vorahnung dessen, was folgen sollte. Unbewusst zog ich meine Hand weg und rückte ein Stück von ihr ab. Lina starrte mich an, und alles Leuchten schwand aus ihrem Gesicht.
»Ach, geh weg«, forderte sie mich schließlich auf. »Du verstehst mich nicht. Du wirst mich nie verstehen. Damek ist der Einzige, der weiß, wie das ist. Der Rest von euch … ihr seid doch alle bloß Schafe.«
Ich war daran gewöhnt, dass Lina mich mit Schimpfwörtern bedachte, doch das verletzte mich trotzdem. Sie weigerte sich, noch etwas zu sagen, und da sich ihre Betrübnis gelegt zu haben schien, ließ ich sie allein.
Bei aller Innigkeit blieb die Beziehung zwischen Lina und Damek eine vetterliche, dennoch beschlich ihren Vater zu jener Zeit Besorgnis über die künftigen Auswirkungen. Er hatte diesen Kuckuck herzlicher in seinem Haus willkommen geheißen, als es seine Pflicht gewesen wäre, und er behandelte ihn liebevoll. Damek hatte sich von Anfang an für die Wirkungsweise von Geld interessiert – zweifellos das Erbe einer von Armut geprägten Kindheit –, und er bedrängte Lord Kadar ständig, ihm den Betrieb des Anwesens beizubringen. Linas Vater interessierte die Buchhaltung nicht annähernd so sehr wie Damek, aber die Wissbegierde des Jungen belustigte ihn. Manchmal verbrachten sie Stunden zusammen im Arbeitszimmer des Masters: Ich vermute, er glaubte, Damek könnte sich später einmal als Verwalter des Anwesens nützlich machen. Jedenfalls hätte ihm die Vorstellung, Damek könnte sein Schwiegersohn werden,
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