Land des Todes
zurückkehrte, richtete er für sich das Ehrenfest aus. Es war das Erste, an dem ich teilnahm, wenngleich nicht das Letzte, und es stellte einen der wenigen Anlässe dar, bei denen Lina mich beneidete: Sie durfte nicht hin, da sie von königlichem Blut und somit von der Vendetta ausgenommen war.
Ein Ehrenfest ist eine seltsame Angelegenheit, zu gleichen Teilen gekennzeichnet durch Stolz, Gram und verhaltene Freude. Wir sangen die traurigen Klagelieder der Vendetta und behängten Petar Oseku mit Ketten aus Frühlingsblumen. In jenem Augenblick verkörperte er einen König, denn er war seiner Ehre treu geblieben und hatte dadurch uns allen Ehre bereitet. Selbst der unscheinbarste Wicht erblüht bei solchen Veranstaltungen zu stolzer Männlichkeit, ja, ich habe erlebt, wie selbst die niederträchtigste Seele dabei eine Würde erlangte, die andernfalls undenkbar gewesen wäre. Ein guter Mann indessen konnte gar wie ein Halbgott wirken.
Petar Oseku saß am Kopf des Tisches, der Rücken gerade wie ein Stock. Er hob seinen Becher mit einer geheimnisvoll anmutenden Freude. Ihm blieben dreißig Tage der Waffenruhe, seine letzten als freier Mann. Danach gehörte er zu den lebenden Toten. Dann konnte er jederzeit getötet werden – wenn er seine Ziegen auf die Weide trieb, wenn er sich um sein Getreide kümmerte oder wenn er nur durchs Dorf schlenderte, um sich mit einem Freund zum Kartenspielen zu treffen. Ich glaube, ihm kam gar nie der Gedanke, Zuflucht in den Odu zu suchen und so seinem Schicksal zu entrinnen: Jedenfalls hätte er dadurch den Untergang seiner Söhne nurbeschleunigt, weil die Vendetta dann auf seine nächsten Angehörigen übergegangen wäre.
Ich habe mich oft gefragt, wie es sich anfühlen muss, ständig den kalten Odem des Todes auf der Wange zu spüren und seine klappernden Skelettschritte hinter sich zu hören. Verbrachte ein solcher Mann all seine wachen Augenblicke in kalten Schweiß gebadet und jede Nacht mit rastlosen Träumen? Was für eine ungeheure Qual musste es sein, in stetiger Erwartung des eigenen Endes zu leben. Würde das todverheißende Klicken einer Flinte in der klaren Luft da nicht eine unaussprechliche Erleichterung sein? Während die Blutrache durch das Dorf wütete, beobachtete ich jeden gestraften Mann mit einer, wie ich gestehe, fast unanständigen Neugier: Und mir schien es, als wäre mein Onkel von allen der Würdevollste, sowohl im Leben als auch im Tod.
Petar Oseku starb eine Woche und zwei Tage nach dem Verstreichen der Waffenruhe – der erste Todesfall jenes schwarzen Frühlings. Er wurde auf einem Ziegenpfad außerhalb des Dorfes erschossen; der Mörder war Lovros Bruder. Gewiss war sein Racheakt von Kummer und Zorn ebenso getrieben wie vom Ungestüm der Jugend, und möglicherweise stellte sein schnelles Handeln sogar eine Gnade dar. Ich glaube, dieser Junge war höchstens neunzehn Jahre alt, als er seinerseits von Petars ältestem Sohn getötet wurde. Und so nahm die Vendetta ihren Lauf.
Die Mühlen der Blutrache mahlen langsam. Sie gleicht damit keinesfalls dem raschen Fieber und Schmerz der Pest, sondern eher einer schleichenden Krankheit, die im Verlauf von Monaten und Jahren das Fleisch von den Knochen schält. Das Ergebnis ist letztlich dasselbe, doch das Dorf passt sich an die ständige Bedrohung an und lebt seinen Alltag weiter. Vielleicht ist das auch der Grund, weshalb die Menschen überleben – schließlich kann man nicht ständig an den Tod denken, so schwer seine Gegenwart auch auf der Seele lasten mag. Andernfalls würde man den Verstand verlieren.
Und so kehrten jene von uns, die nicht unmittelbar betroffen waren, nach der anfänglichen Aufregung und dem ersten Zorn – der sich gegen das Dorf Skip richtete – schließlich zu ihrem gewöhnlichen Leben zurück, und die Vendetta rückte in den Hintergrund. Für mich bedeutete das Unterricht und Haushaltspflichten. Lina hatte beschlossen, einige Verhaltensweisen einer Dame anzunehmen; es war ihrem Vater gelungen, ihr einzubläuen, wie ausgesprochen wichtig es war, sich wenigstens einigermaßen anständig zu benehmen. Sowohl Lina als auch ich näherten uns der Schwelle zur Fraulichkeit. Und so spielten wir nicht mehr, wie es kleine Kinder taten, als Mädchen und Jungen gemeinsam, sondern rotteten uns mit unserem eigenen Geschlecht zusammen. Ich begann, Jungen mit schamhaften, aber keineswegs gleichgültigen Augen zu betrachten.
Die Ausnahme dieser Geschlechtertrennung bildeten Lina und Damek, deren
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