Land des Todes
holten die Jungen sie wieder ans Tageslicht. Erst als Lina wie ein großer Fisch über den Rand des Einstiegs gezogen wurde, bemerkte ich, dass ich die ganze Zeit über den Atem angehalten hatte. Mit schlammverschmierten Kleidern und funkelnden Augen stand sie auf. »Das war lustig!«, meinte sie. »Stellt euch nur vor, ihr hättet mich losgelassen! Ich würde vielleicht immer noch fallen.«
Trotz Linas Begeisterung zeigte sich niemand sonst geneigt, das Experiment zu wiederholen, und schon bald schlugen uns sicherere Unterfangen in ihren Bann. Zwar plagten mich in jener Nacht Albträume darüber, in ein bodenloses Loch zu fallen, doch das blieb die einzige Nebenwirkung unseres Abenteuers. Dennoch verursacht mir die Erinnerung an Linas Wagemut immer noch Gänsehaut.
Da der Herbst nahte, waren wir alle mit unseren häuslichenPflichten beschäftigt. Der Sommer war ungewöhnlich golden gewesen, und es gab eine fette Ernte für den Winter. Wir legten geviertelte Äpfel und Pfirsiche zum Trocknen aus. Berge von Kirschen, Walnüssen und Bohnen wurden eingemacht. Wohlgenährte Schweine wurden geschlachtet und zu Würsten und großen Speckstücken verarbeitet. Hartkäse wurde in den kühlen Kellern eingelagert. Gerste und Dinkel wurden geerntet, gedroschen und zu dem groben Mehl für das gute Sauerteigbrot der Nordebenen gemahlen.
Der Zauberer Ezra kehrte kurz vor der Erntezeit zurück und berief einen Rat mit den Dorfältesten ein. Er berichtete ihnen, dass er am Tag der Ermordung Surinams seine Kräfte eingesetzt und die Tat in einer Vision gesehen habe. Surinam, so schilderte er, sei von Lovro erschossen worden, dem zweitgeborenen Sohn von Kutsak Eran, einem Landbesitzer in Skip. Darob ging ein Aufatmen der Erleichterung durch die Reihen: Immerhin traute man den Bewohnern von Skip Frevel jeder Art zu. Doch Ezra hob eine Hand, um das Gemurmel zum Verstummen zu bringen. Nein, widersprach er – es sei nicht so einfach, wie es zu sein schien. Denn Surinam sei ein Mann, der niemanden habe, seinen Tod zu rächen. Man hätte umfangreiche Nachforschungen angestellt, hätte aber seine Familie nicht ausfindig machen können. Und deshalb sei die Frage, wo er getötet worden war, entscheidend. Hätte Surinam die Grenze unseres Dorfes überschritten, wäre er unser Gast gewesen; und damit hätte der Mann, der ihn, unseren Gast, getötet hatte, zugleich die Ehre der Menschen unseres Dorfes beleidigt.
Tödliches Schweigen senkte sich über die Versammlung. Dann erhob sich Petar Oseku, in dessen Scheune das unglückselige Opfer geschlafen hatte, und bestritt zornig, dass Surinam getötet worden sei, während er unter seinem Schutz stand. Der Mann sei am Grenzstein gestorben und hätte das Dorf zu diesem Zeitpunkt somit verlassen gehabt. Nein, widersprach Ezra – der Grenzstein kennzeichne die Außengrenzedes Ortes, gehöre selbst jedoch noch dazu. An der Stelle hob er zum Zeugnis das Buch, den Quell allen Brauchtums; und wer hätte es abstreiten sollen, zumal außer meinem Vater und Herrn Herodias niemand im Dorf darin lesen konnte? Das Buch, so beharrte der Zauberer Ezra donnergleich, sei in dieser Frage unmissverständlich. Zudem sei er höchstpersönlich weit gereist, um sich mit seinen Brüdern und mit den weisen Beratern der Königsfamilie zu besprechen, um eben diesen Punkt zu klären. Die Schlussfolgerung sei klar: Es oblag der Ehre des Hauses Oseku, diesen höchst schändlichen Tod zu rächen. Mittlerweile waren fünfzehn Tage verstrichen, und Petar Oseku blieben als Oberhaupt der Familie nur noch fünfundzwanzig Tage der Waffenruhe. Sobald die Frist verstrichen wäre, musste er handeln, wenn die Ehre dieses Dorfes wiederhergestellt werden sollte. Kurz: Er musste nach Skip reisen und den zweitgeborenen Sohn von Kutsak Eran töten, auf dass sich der Teufel seine Seele hole.
Petar Oseku war mein Onkel, der Bruder meines Vaters. Für die Maßstäbe des Nordens war er ein anständiger, sanftmütiger Mann. Viele Jahre später erzählte mir meine Tante, dass er um ein Jahrzehnt gealtert zu sein schien, als er von jener Versammlung nach Hause kam. Wortlos hatte er seine Flinte in die Ecke der Küche gestellt und das Gesicht der Wand zugedreht. Meine Tante, eine wahre Tochter des Nordens, war nie eine Frau gewesen, der leicht die Tränen kamen, dennoch hatte sie sich den Rock über das Gesicht geworfen, um die Laute ihres Weinens zu dämpfen.
Was sie beide am meisten gefürchtet hatten, war eingetreten. Ihre Kinder würden den
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