Landgericht
Aknegesicht um, der ihn neulich beobachtet hatte. Er war nirgends zu sehen.
Draußen tauchte Nathalie auf. Sie trat auf den Bahnsteig und stöckelte auf die Waggons zu. Die schwarzen Locken wippten auf und ab. Sie war atemberaubend schön. Wie konnte er so eine Sehnsucht empfinden? Es waren doch nur ein paar Stunden gewesen, die sie sich nicht gesehen hatten. Etwas veränderte sich. Er spürte eine Kraft in sich, die er bis dahin nicht gekannt hatte.
Nathalie stieg in den Zug und entdeckte ihn. Ein breites Lächeln trat in ihr Gesicht. Marius konnte immer noch nicht glauben, dass ihm das passierte. Der Motor der Lok sprang an, Lichter flackerten auf, gleich würde es losgehen.
»Ich dachte schon, du lässt mich sitzen«, meinte er. »Und dass du noch zur Post wolltest, war nur eine Ausrede.«
»Da kennst du mich aber schlecht. Du schuldest mir fünfundzwanzig Euro.« Die hatte sie ihm geliehen, damit er sich seine Mensakarte aufladen konnte. »Die hätte ich vorher schon noch eingetrieben.«
Er lächelte. »Wenn das so ist, werde ich mir Zeit lassen, sie zurückzuzahlen.«
Der Zug fuhr los, und Marius legte den Arm um sie. Sein Blick fiel auf den Schulkameraden von Nicole. Er sprach mit einer Frau, von der er nur den Hinterkopf erkennen konnte, und sah dabei immer wieder in seine Richtung. Eine Weile später blickte sich die Frau ebenfalls um, um einen raschen Blick auf ihn und Nathalie zu werfen. Ihr Gesichtsausdruck war düster und missgünstig.
Marius stieß einen Seufzer aus.
»Was ist denn los?«, fragte Nathalie.
»Siehst du die Frau da hinten? Die und der Anzugträger zerreißen sich gerade das Maul über uns. Die Frau heißt Ann-Kathrin, sie ist die beste Freundin meiner Schwester.«
»Ach, ehrlich? Was ist denn deren Problem?«
»Sie mögen mich nicht. Das haben sie noch nie getan.«
»Na und? Die können dir doch egal sein, oder?«
»Nein. Ann-Kathrin wird Nicole von uns erzählen.«
»Ist das schlimm?«
»Du kennst meine Familie nicht.«
Sie rückte von ihm ab und betrachtete ihn mit einem Lächeln. »Willst du mich denn vor ihnen geheim halten?«
»Es ist kompliziert.«
Sie fixierte ihn. »Schämst du dich für mich?« Es klang wie ein Vorwurf, und er fragte sich, ob es hier plötzlich um die Hautfarbe ging.
»Nein, natürlich nicht! Ich…«
Er war durcheinander. Reichte etwa die Anwesenheit von Ann-Kathrin schon aus, um den ersten Keil zwischen ihn und Nathalie zu treiben? Was wäre dann erst, wenn seine Familienmitglieder höchstpersönlich ins Spiel kämen?
»Mein Vater manipuliert gerne«, sagte er. »Alles muss genau so laufen, wie er sich das vorstellt. Er ist perfekt darin, Macht auf andere auszuüben. Deshalb… Ach, ich weiß auch nicht.«
Ihm wäre es lieber gewesen, keiner hätte von Nathalie erfahren. Die Vorstellung, einen Teil seines Lebens von seiner Familie abzuspalten, hatte etwas Verführerisches. Er würde ein Doppelleben führen: sich wegschleichen, Ausreden überlegen, Termine vorgeben. Keiner hätte Zugang zu diesem Teil seines Lebens. Er hätte etwas ganz für sich allein, worüber sein Vater keine Macht hatte.
Sie betrachtete ihn mit einem Stirnrunzeln und wirkte dabei nicht verärgert, sondern eher interessiert.
»Aber das ist jetzt sowieso egal«, sagte Marius ernüchtert. »In ein paar Stunden wissen alle Bescheid. Ann-Kathrin wird bestimmt sofort bei meiner Schwester anrufen.«
Der Zug hielt an einem kleinen Bahnhof, Menschen stiegen aus und ein. Die Sonne blinzelte zwischen Baumkronen hindurch, Vögel zogen am Himmel entlang. Marius spürte, wie Traurigkeit in ihm aufstieg. Er wollte nicht mehr an seine Familie denken. Nicht, so lange er mit Nathalie zusammen war.
»Ich könnte mitkommen«, schlug sie vor. »Du nimmst mich gleich einfach mit und stellst mich deinen Eltern vor. Ganz zwanglos. Nur, weil ich zufällig zu Besuch bin.«
Marius dachte an die dunkle Villa, die spürbare Kälte. Er traute Nathalie zwar zu, sich dort zu behaupten. Mit ihrer natürlichen Fröhlichkeit würde sie seine Eltern bestimmt aus der Fassung bringen.
Aber was wäre seine Rolle dabei? Er würde danebenstehen und sich schlimmstenfalls von seinem Vater demütigen lassen. Wollte er Nathalie diese Seite von sich zeigen?
Sein Vater wusste genau, wo Marius verletzbar war, und er würde nicht zögern, das auszunutzen. Und sei es nur, um ihn vor seiner neuen Freundin vorzuführen. Ihr die Schwächen seines Sohns zu zeigen. Ihn erbärmlich aussehen zu lassen.
Nein. Auf
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