Landgericht
ein.
»Warte, Henrik. Wie lange bist du eigentlich schon im Gericht?«, fragte er.
»Den ganzen Vormittag. Wieso?«
»Da war eine Mulattin. Nathalie Soundso. Die haben wir im Mordfall Marius Baar befragt. Die hat eine Zeit lang im Lichthof herumgesessen. Hast du die gesehen?«
Er runzelte die Stirn. »Die schöne Frau in dem Trenchcoat? Das war also die Freundin von dem Baar? Die hab ich damals gar nicht zu Gesicht bekommen, sonst hätte ich die nicht vergessen, da kannst du Gift drauf nehmen.«
Keller war mit der Aktenpflege betraut gewesen. Doch auch wenn er das Büro kaum verlassen hatte, wusste er eine Menge über den Fall. Und sein Gedächtnis war gut.
»Die hieß … warte, mir fällt’s gleich ein. Nathalie Brüggenthies, genau.« Er grinste. »Schräger Name für so eine exotische Erscheinung. Klingt irgendwie ziemlich spießig. Der Vater ist Deutscher. Die Mutter kommt aus Kenia, wenn ich mich recht erinnere. Leben in Essen, die Eltern.«
»Was ist mit dem Typen, der bei ihr war? Der mit der Hornbrille. Hast du den schon mal gesehen?«
»Nein, muss ich passen. Hatte der was mit der Ermittlung zu tun?«
»Das weiß ich nicht. Deshalb frage ich.«
»Sorry. Da kann ich dir nicht weiterhelfen. Aber hatte die nicht einen Mitbewohner? Die lebt in einer Studenten-WG, wenn ich mich recht erinnere, und Marius Baar war auch ständig dort. Vielleicht war der das ja.«
Hambrock sah nachdenklich zur Hauptverkehrsstraße, die am Landgericht vorbei in Richtung Innenstadt führte.
»Ja, vielleicht«, sagte er nachdenklich. »Kannst du dich noch erinnern, ob diese Nathalie Kontakt zur Familie des Opfers in Gertenbeck hatte? Oder zu seinen Freunden dort? Ich meine, die beiden wären erst kurz vor seinem Tod ein Paar geworden. Kannte die da überhaupt einen?«
»Nein, da gab’s keinen Kontakt. Aber ganz sicher bin ich nicht. Man müsste noch mal in die Befragungen sehen.« Keller fixierte ihn. »Wieso interessiert dich das überhaupt? War irgendwas in der Verhandlung?«
»Ach, nein. Gar nichts. Ich bin nur neugierig.« Er grinste. »Es ist wohl überfällig, dass ich ein paar Tage freimache. Sonst kann ich gar nicht mehr abschalten.«
»Da hast du wohl recht.« Keller deutete zur Schleuse. »Ich muss los. Wir sehen uns, Hambrock. Mach’s gut.«
Und damit verschwand er im Gebäude. Hambrock drehte sich um und steuerte den Parkplatz an.
Es gab keinen unbekannten Dritten. Das war völlig ausgeschlossen.
5
Die Regionalbahn nach Essen wartete mit abgestellten Motoren am Gleis. Noch zehn Minuten bis zur Abfahrt. Nach und nach trudelten Fahrgäste ein. Marius saß unruhig am Fenster und blickte zum Treppenaufgang. Er wartete.
Nathalie. Er konnte kaum glauben, was da gerade passierte. Alles war wild und neu und aufregend. Sein ganzes Leben war auf den Kopf gestellt worden. In den vergangenen Tagen hatten sie kaum das Bett verlassen. Gemeinsame Zukunftspläne geschmiedet. Sie hatten sogar schon darüber nachgedacht, ob sie zusammenziehen sollten. Alles schien möglich. Es war unglaublich. Er hatte die Uni geschwänzt. Das Handy ausgeschaltet. Selbst seinen Vater hatte er angelogen. Der glaubte nämlich, er wäre mit ein paar Freunden bei einem Blockseminar, um sich auf die nächsten Prüfungen vorzubereiten. Marius kannte sich nicht wieder. Alles war ihm plötzlich egal: das Studium, die Firma, sein Vater. Er hatte nicht einmal darüber nachgedacht, ob es das Richtige war, sondern einfach gehandelt. Er tat, wonach ihm war, zum ersten Mal in seinem Leben. Ein großartiges Gefühl.
Die Türen glitten auseinander, und weitere Fahrgäste stiegen ein. Mit abgestellten Motoren war es ungewohnt ruhig im Waggon. Eine seltsame Atmosphäre, man hörte jedes Geräusch, und die Menschen waren bemüht, den Blicken der anderen auszuweichen.
Ein bekanntes Gesicht aus Gertenbeck tauchte auf. Ein Versicherungsfritze mit Anzug und Krawatte, kaum älter als Marius. Er war ein Klassenkamerad seiner Schwester Nicole gewesen, daher kannte Marius ihn. Ihre Blicke trafen sich. Der Mann ging grußlos an ihm vorbei. Freunde von Nicole mochten ihn nicht, das war schon immer so gewesen.
Doch heute machte ihm das nichts aus. Im Gegenteil. Marius konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Keiner ahnte, was passierte. Es war, als lebten er und Nathalie in einer Parallelwelt.
Er sah sich im Zug um. Diesmal waren kaum vertraute Gesichter zu sehen. Nur der Alkoholiker hockte auf seinem Klappsitz. Marius sah sich nach dem bulligen Typen mit dem
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