Landgericht
dem Befund der Obduktion war das allerdings unmöglich: Der tödliche Tritt hatte eine schwere Schädelfraktur zur Folge gehabt. Marius Baar war auf der Stelle tot gewesen.
Dieses Detail war für die Verteidigung von erheblicher Bedeutung. Sollte Marius tatsächlich noch gelebt haben, änderte das die gesamte Situation grundlegend. Zum einen versuchte die Verteidigung natürlich, das Gericht zu überzeugen, dass bei der Tat keine Tötungsabsicht vorgelegen habe, zum anderen ging es um den Unterschied zwischen Totschlag und gefährlicher Körperverletzung mit Todesfolge – was sich wiederum auf das Strafmaß auswirken würde. Vor allem aber stellte sich dann die Frage, wer Marius Baar den tödlichen Tritt versetzt haben mochte. Ein unbekannter Dritter am Tatort, das hatte natürlich Potenzial.
»Wie Sie wissen, werden wir heute Nachmittag die Rechtsmedizinerin als Sachverständige befragen«, fuhr die Anwältin fort. »Aber Sie haben ja schon angedeutet, dass die Schädelfraktur bei Marius Baar den sofortigen Tod zur Folge hatte. Mein Mandant gibt nun an, dass Marius Baar noch gelebt hat, als die drei Angeklagten fortgelaufen sind. Er habe sich noch bewegt. Die medizinischen Details werden wir später klären können. Aber gehen wir mal davon aus, dass der Tod sofort eingetreten ist. Dann ergibt sich ein Widerspruch mit der Aussage meines Mandanten.«
Dabei gab es nicht den geringsten Hinweis auf ein solches Szenario. Hambrock hatte während der Vernehmung zu keinem Zeitpunkt den Eindruck gehabt, dass diese Geschichte der Wahrheit entsprechen könnte. Selbst wenn Dennis Gröver nicht bewusst log, so war es durchaus denkbar, dass er sich etwas zurechtlegte, um seine persönliche Schuld zu relativieren. Nicht von ungefähr war er der Junge, der am meisten unter dem Geschehen litt.
Die Anwältin fuhr fort: »Auf der Aufzeichnung des Handy-Videos ist nicht zu erkennen, ob Marius Baar nach dem Übergriff noch lebte. Der Mitschnitt zeigt nur, wie meine Mandanten über das Gleisbett fliehen. Das Opfer ist bei der Aufzeichnung sozusagen im toten Winkel. Ich frage Sie daher: Ist es denkbar, dass ein unbekannter Dritter hinzugetreten ist, nachdem meine Mandanten den Tatort verlassen hatten?«
»Es gibt keinerlei Hinweise, weder hinsichtlich der Zeugenaussagen noch von der Spurenlage her. Ich möchte auch zu bedenken geben, dass das Zeitfenster sehr klein war. Gleich nachdem die Angeklagten geflohen waren, wurde der Notarzt verständigt. Außerdem hat einer der Fahrgäste versucht, erste Hilfe zu leisten. Von einem unbekannten Dritten auszugehen, wäre sehr spekulativ.«
Die Anwältin betrachtete ihn nachdenklich, bevor sie schließlich nickte und sich an die Richterin wandte.
»Danke. Ich habe keine weiteren Fragen mehr an den Zeugen.«
Und das war es dann. Schniederjohann händigte Hambrock das Formular für die Fahrtkostenerstattung aus, und er wurde entlassen. Als er aufstand und den Saal durchquerte, gab es in den Zuschauerreihen Getuschel. Der Gerichtsdiener hielt ihm die Tür auf und nickte ihm zum Abschied zu. Wieder zwinkerte er ihm verschwörerisch zu, dann schloss er die Tür. Die laute Stimme der Richterin verhallte, und Hambrock war wieder allein im stillen Lichthof.
Er atmete durch. Jetzt noch schnell ins Präsidium, um die letzten Absprachen zu treffen, und danach würde er nach Hause gehen. Endlich freimachen.
Draußen hinter der Glasfront stand eine einsame Gestalt mit hochgezogenen Schultern in der Kälte und rauchte. Hambrock stutzte. Das war Henrik Keller, sein Kollege. War der etwa hier, um Hambrock abzuholen? Da hätte er doch vorher etwas gesagt. Außerdem stand er ohne Jacke dort, in einem viel zu dünnen Hemd. Es sah aus, als wäre er nur kurz für eine Zigarette vor die Tür gegangen.
Hambrock trat durch die Schleuse ins Freie.
»Henrik, das ist ja eine Überraschung!«
Keller schrak zusammen, als wäre er bei etwas ertappt worden. Er betrachtete Hambrock wie ein Gespenst. Dann schlug er sich gegen die Stirn. »Ach, die Verhandlung im Fall Marius Baar. Die ist ja heute, stimmt.«
»Ich hab gerade meine Aussage gemacht.« Hambrock betrachtete ihn. »Aber was machst du denn hier?«
»Ich feiere Überstunden ab. Da wollte ich … Du weißt doch, wir …« Er winkte ab. »Ach, was soll’s. Du hast das bestimmt sowieso schon gehört. Ich bin wegen Niklas hier, meinem Sohn. Die Verhandlung geht gleich los.«
Hambrock stutzte. Kellers Sohn stand vor Gericht? Das war ihm neu. Und es zeigte
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