Landgericht
aufgerissen. Doch dann hatte er Hambrocks Dienstmarke gesehen und den betretenen Gesichtsausdruck, und die Wut war augenblicklich verraucht. Seine Ehefrau tauchte ebenfalls an der Tür auf. Eine Frau mit fahler Haut und vielen Falten, die Hambrock am nächsten Tag kaum wiedererkannt hatte, als sie wie gewöhnlich geschminkt war. Die beiden hatten die Todesnachricht mit steinernen Gesichtern entgegengenommen. Eine Weile sagten sie gar nichts, doch dann kamen ihre beiden Söhne in die Eingangshalle, Roland und Nils, beide in Schlafanzügen. Bei ihrem Anblick verwandelte sich Klaus Baar wieder in den Patriarchen. Er schickte sie lautstark zurück in ihre Betten, wies seine Frau an, sich um die Jungen zu kümmern, bat Hambrock, draußen zu warten, und schloss dann die Tür, um sich anzukleiden. Er wirkte wie ein Fels, selbst als er Hambrock begleitete, um seinen Sohn zu identifizieren.
Hambrock fiel ein, dass Nicole in dieser Nacht nicht aufgetaucht war. Er fragte sich, ob sie gar nicht von der Türklingel geweckt worden oder ob sie womöglich gar nicht zu Hause gewesen war.
»Hambrock! Ich wusste doch, dass du dich hier irgendwo rumtreibst!« Hubertus Meyer stand mit einem Tablett vor seinem Tisch. Hähnchengeschnetzeltes dampfte auf einem Teller. »Ich darf mich zu dir setzen?«
»Natürlich.« Hambrock wies auf den freien Platz. »Lass es dir schmecken.«
Hubertus Meyer nahm Platz. »Es geht langsam dem Ende entgegen«, sagte er und sortierte das Besteck. »Nicht mehr lange bis zu den Plädoyers. Alle wichtigen Zeugen sind durch. Was denkst du, wie hoch wird das Strafmaß ausfallen?«
»Keine Ahnung. Abwarten. Richterin Schniederjohann kann man da nur schwer einschätzen.«
»Die Mitangeklagten werden bestimmt freigesprochen werden, da wette ich drauf.«
»Das ist doch gar nicht möglich.«
»Na, ich meine damit, sie bekommen eine Bewährungsstrafe. Das ist doch das Gleiche.«
»Also, das würde ich nicht …«, begann Hambrock.
»Sie werden in Freiheit sein«, widersprach Hubertus Meyer. »Das ist es doch, worauf es ankommt. Viel interessanter wird das Urteil für den Hauptangeklagten. Was diesen Lennard angeht, da bin ich mal gespannt. Bei dem ist Bewährung ja schlecht möglich, da geht es um die Höhe der Haftstrafe. Trotzdem: intakte Familie, kurz vor dem Abitur, stabiles soziales Umfeld. Ich kann mir kaum denken, dass die Strafe besonders hoch ausfällt.«
»Es geht um Totschlag. Das darfst du nicht vergessen. Ich glaube nicht, dass die Richterin der Verteidigung folgt: Schwere Körperverletzung mit Todesfolge.«
»Bist du dir sicher? Da ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Na, wir werden sehen. Aber selbst wenn er für ein paar Jahre in den Knast kommt, wird er da sein Abitur machen können. Vielleicht sogar mit einem Studium anfangen. Sein Leben wird nicht zu Ende sein, so viel ist sicher. In ein paar Jahren ist er wieder draußen, und dann kann er von vorne anfangen. Immer noch jung genug, um alle Möglichkeiten zu haben.«
Hambrock blickte zum Fenster. Die Sonne brach durch die Wolkendecke, und das weiße Haus der Landesbausparkasse leuchtete zwischen zartgrünen Bäumen. Er dachte an den kaputten Küchenschrank, den er reparieren wollte, und fragte sich, was er hier überhaupt noch machte.
»Ich werde jetzt nach Hause fahren«, verkündete er. »Es wird wirklich Zeit, dass ich mal abschalte.«
»Dann willst du gar nicht bis zur Urteilsverkündung warten?«
»Nein. Ich erfahre es früh genug aus der Zeitung.« Er reckte sich und stand auf. »Mach’s gut, Hubertus.«
Im Fahrstuhl nach unten merkte er, wie er sich zu entspannen begann. Er hatte es endlich geschafft abzuspringen. Jetzt konnte der Urlaub losgehen.
Im Wagen klingelte sein Handy, das an die Freisprechanlage angeschlossen war. Er drückte die Taste und nahm das Gespräch entgegen.
»Hambrock, hier ist Irene Böhm von der Pforte. Ich störe doch hoffentlich nicht?«
»Nein, überhaupt nicht. Was gibt’s denn? Ist was passiert?«
»Das nicht. Ich dachte nur, es würde dich vielleicht interessieren … Der Junge, der neulich hier war, du weißt schon, der aus der Mordermittlung in Coerde. Na ja, der ist wieder da. Er wirft Körbe. Gegenüber an der Dreifaltigkeitsschule.«
»Hast du ihm nicht gesagt, dass ich heute nicht im Präsidium bin?«
»Das ist es ja. Er war gar nicht hier, um nach dir zu fragen. Ich hab den vor gut zwei Stunden da drüben entdeckt. Keine Ahnung, was der vorhat. Irgendwie wirkt es so, als hätte
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