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Landgericht

Landgericht

Titel: Landgericht
Autoren: Stefan Holtkoetter
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Frage. Es wäre ein zu großer Affront gegen ihren Bruder gewesen. So wichtig die Buchhaltung auch war, das spektakuläre Ereignis am morgigen Tag wäre natürlich die Betreuung der Großkunden.
    »Wenn Marius morgen eine wichtige Vorlesung hat, kann ich mit den Softwareleuten sprechen«, schlug sie vor. »Schließlich habe ich lange genug in der Buchhaltung gearbeitet.«
    Der Vater ließ seinen Blick auf Marius ruhen.
    »Eine Vorlesung also.« Ohne eine Miene zu verziehen, stieß er verächtlich die Luft durch die Nase.
    Plötzlich war da Nathalies Stimme in seinem Kopf: »Sag es ihnen. Sag es jetzt. Was hast du noch zu verlieren? Du liebst mich. Du wirst mit mir zusammenziehen. Soll doch Nicole das Unternehmen führen. Sie ist eh besser geeignet dafür. Hau es ihnen um die Ohren. Befreie dich.«
    Sein Vater und Nicole redeten über diesen Großkunden aus Österreich. Die Worte rauschten an ihm vorbei. Er war nicht beteiligt.
    »Willst du gar nichts essen?«, fragte seine Mutter. Es klang wie ein Vorwurf.
    »Doch, natürlich«, sagte er und nahm die Gabel auf.
    »Nils, Ellbogen vom Tisch!«, fauchte sie. »Wo sind wir denn hier?« Und mit einem finsteren Blick in die Runde: »Ich weiß wirklich nicht, woher der Junge das hat.«
    Das Essen wurde schweigend fortgesetzt. Nathalies Stimme in seinem Kopf war verstummt. Er konnte es nicht. Er konnte sich nicht hinstellen und es seinem Vater ins Gesicht sagen.
    Nein, es würde bei dem alten Plan bleiben. Er würde mit Nathalie fliehen. Bei Nacht und Nebel sozusagen. Ohne ein Wort. Und erst, wenn sie weit, weit weg wären und in Sicherheit, erst dann würde er es seine Familie wissen lassen, was er entschieden hatte. Er musste zunächst aus ihrem Machtbereich ausbrechen, sonst hatte er keine Chance.
    Nach dem Essen ging er hinauf in sein Zimmer. Er checkte seine E-Mails, doch Nathalie hatte ihm nicht geschrieben. Hinter seinem Fenster stand blutrot die Sonne am Horizont. Da waren Felder, Wiesen, etwas entfernt die Häuser und der Kirchturm von Gertenbeck. Seit Wochen zeigte sich der Sommer von seiner schönsten Seite. Wie oft kam das schon vor im regnerischen Münsterland? Er überlegte, ob er mit dem Mercedes eine Spritztour unternehmen sollte. Hauptsache, raus aus diesem Gefängnis.
    Auf dem Weg durch den Flur kam er an Nils’ Zimmertür vorbei. Sie stand einen Spalt weit offen, und er sah seinen kleinen Bruder am Computer hocken. Auf dem Bildschirm kämpften Alienarmeen miteinander. Monster mit Stiernacken in mittelalterlichen Rüstungen, ein Schlachtfeld mit Feuerstürmen und umherfliegenden Geschossen. Marius kannte das Computerspiel: Warhammer, ein Online-Rollenspiel, das Nils über alles liebte. Über Headset sprach er sich mit anderen Spielern ab, dabei fingerte er hektisch auf seiner Tastatur herum.
    Marius beobachtete ihn eine Weile, dann wandte er sich ab, um weiterzugehen. In diesem Moment sah Nils auf und entdeckte ihn in der Tür. Marius bedeutete ihm mit einer Geste, nicht stören zu wollen. Doch sein Bruder hob bereits die Hand, murmelte etwas in sein Headset und drückte auf Pause. Die Szene auf dem Monitor blieb stehen.
    »Hallo, Marius. Ist was?«
    Marius schob die Tür auf und trat näher.
    »Ich wollte dich nicht aus dem Spiel rausholen. Wie’s aussieht, bist du mitten in einer Schlacht.«
    »Ach, kein Problem. Ich muss eh eine Pause machen. Ich hab meine Hausaufgaben noch nicht fertig.«
    Marius runzelte die Stirn. Für seinen Bruder war das eine ungewöhnliche Aussage. Warhammer ging ihm normalerweise über alles.
    »Mama kontrolliert die neuerdings jeden Abend«, erklärte Nils. »Da ist sie gnadenlos. Seit sie beim Elternsprechtag war.«
    »Verstehe. Hat wohl Ärger gegeben.«
    Sein kleiner Bruder war in der Schule noch nie die große Leuchte gewesen, aber selbst Marius hatte mitbekommen, wie seine Leistungen weiter abgefallen waren, seit er den Großteil seiner Nachmittage vor dem Computer verbrachte. Marius war erstaunt gewesen, dass seine Eltern bislang noch kein generelles Internetverbot ausgesprochen hatten. Wahrscheinlich fanden sie es im Grunde ganz nützlich, Nils nachmittags vor dem Computer parken zu können. Dann musste sich keiner um ihn kümmern.
    »Ich krieg wohl zwei Fünfen, wie’s aussieht. Wenn ich das nicht ausgleiche, muss ich eine Ehrenrunde drehen.«
    Marius schob achtlos hingeworfene Kleidungsstücke von einem Stuhl und setzte sich.
    »Und?«, fragte er. »Gleichst du das noch aus?«
    Nils hob die Schultern. »Mal
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