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Landgericht

Landgericht

Titel: Landgericht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Holtkoetter
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vor.«
    Vorsichtig schob er die Tür auf. Der Raum lag im Zwielicht, durch die zugezogenen Vorhänge drang kaum Licht. Doch ein flüchtiger Blick reichte aus, um zu erkennen: Roland war nicht da.
    Marius hatte seinem Bruder versprochen, bei einem Schulprojekt zu helfen. Mathe-Leistungskurs. Es ging um die Berechnung von Wirtschaftsprognosen eines fiktiven Unternehmens. Da Roland aus einer bekannten Unternehmerfamilie stammte, hatte sein Mathelehrer ihn sofort in das Projekt eingebunden. Als ob Roland irgendwas von diesen Dingen verstehen würde. Nun sollte Marius dabei helfen, das Unwissen seines Bruders zu kaschieren und dafür zu sorgen, dass er sich in der Schule nicht blamierte.
    Marius wollte die Sache schnell hinter sich bringen. Er war mit Nathalie verabredet. Sie würde heute Abend in der WG für ihn und ihren Mitbewohner kochen. Er konnte es kaum abwarten, nach Münster zu fahren. Hatte Roland die Verabredung etwa vergessen?
    Er ließ seinen Blick durch den Raum wandern. Es war lange her, dass er in Rolands Zimmer gewesen war. Früher hatte er sich mit seinem Bruder gut verstanden. Roland war der Einzige in der Familie gewesen, mit dem Marius sich normal unterhalten konnte. Aber das war Vergangenheit. Sie hatten sich irgendwann auseinandergelebt. Mit Rolands Pubertät war das losgegangen. Er hatte sich zurückgezogen. Sich plötzlich für andere Dinge interessiert.
    Zuerst war er Feuer und Flamme gewesen für irgendwelche Ballerspiele am Computer, für die Marius keine Begeisterung aufbringen konnte. Dann folgte eine Mittelalterphase, in der er sich verkleidete, an Rollenspielen teilnahm und sich auf Mittelaltermärkten herumtrieb. Und schließlich begann er sich für schräges mythologisches Zeug zu interessieren, aber zu dem Zeitpunkt war Marius längst ausgestiegen. Er konnte nicht mehr sagen, womit sich Roland beschäftigte und was ihn bewegte. Von ihrer früheren Verbundenheit, schien es, war nichts geblieben.
    Das Zimmer lag im Halbdunkel. Bett und Schränke hatte Roland mit schwarzem Lack angestrichen, aber das war noch während seiner Mittelalterphase gewesen. Nun klebten bunte Poster mit irgendwelchen Hip-Hop-Bands darauf. Es herrschte Unordnung. Kapuzenpullis, Turnschuhe, Schulsachen, alles lag verstreut herum. Auch sein Schreibtisch versank im Chaos. Hefte mit Eselsohren, zerfledderte Kopien, leere Chipstüten. Darüber das Poster einer Heavy-Metal-Band, deren Namen Marius noch nie gehört hatte, und eine Flagge mit einem keltischen Kreuz, wahrscheinlich auch ein Überbleibsel aus der Mittelalterphase.
    Marius spürte einen Stich. Als Roland noch jünger gewesen war, hatte er ihm immer alles erzählt. Da waren sie unzertrennlich gewesen. Jetzt vermisste er das. Ihm fehlte ein Verbündeter in diesem Irrenhaus. Gerade jetzt.
    Er verließ den Raum und ging weiter zu Nils’ Zimmer. Aus dem Innern drangen die Schlachtgeräusche seiner Weltraumabenteuer. Marius streckte den Kopf durch die Tür. Nils’ Gesicht leuchtete im Widerschein des Monitors.
    »Weißt du, wo Roland steckt?«, fragte Marius.
    Sein Bruder fingerte weiter auf der Tastatur herum. Ohne aufzusehen sagte er: »Der ist in die Firma gefahren.«
    »In die Firma? Was will er denn da?«
    »Keine Ahnung. Irgendwas von Papa. Eine Unterschrift oder so.«
    »Aber wir waren verabredet.«
    »Der kommt sicher gleich wieder.«
    Und damit tauchte Nils wieder ganz ab. Die Unterhaltung war beendet. Marius trat unschlüssig in den Flur zurück. Er hatte keine Lust, in die Firma zu fahren. Aber die Vorstellung, hier herumzusitzen und zu warten, behagte ihm noch weniger. Er wollte so schnell wie möglich zurück nach Münster.
    Also verließ das Haus und setzte sich hinters Steuer seines Mercedes. Die Firma war zwar nur gut hundert Meter entfernt, trotzdem nahm er den Wagen. Er würde von dort ganz einfach nach Münster weiterfahren. Das Unternehmen lag nämlich direkt an der Autobahnausfahrt: ein großer Verwaltungskomplex, Lagerhallen, Produktionsanlagen, Labore, Höfe, eine Spedition mit Fuhrpark und Werkstatt und drum herum ein hoher Zaun und am Eingang ein Pförtnerhaus mit Überwachungskameras. Es war eine Welt für sich.
    Marius parkte quer vor dem Verwaltungsgebäude. Eigentlich war das verboten, ein Mitarbeiter hätte sein Auto dort nicht abstellen dürfen. Aber hier kannte jeder den Mercedes und wusste, wem er gehörte. Deshalb würde es keinen Ärger geben. Mit dem Sohn vom Chef legte man sich besser nicht an.
    Auch Frau Gärtner, eine

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