Landgericht
er kein Zuhause. Ich wäre ja rübergelaufen, um ihm zu sagen, dass du im Urlaub bist. Aber ich war mir nicht sicher, ob dir das recht ist.«
Das war typisch für sie. Irene hatte ein gutes Gespür für Menschen und Situationen. Im Streifendienst war ihr diese Fähigkeit sicher häufig zugutegekommen.
»Weißt du was, Irene? Ich komm einfach kurz vorbei. Ich sitze ohnehin im Wagen, das ist kein großer Umweg. Vielleicht ist es besser, wenn ich selbst sehe, was los ist. Danke, dass du mir Bescheid gesagt hast.«
Er wendete den Wagen und steuerte das Präsidium an. Als er auf den Parkplatz fuhr, sah er Fabio bereits am Basketballkorb. Er dribbelte den Ball im Kreis, dann sprang er und warf. Treffer.
Hambrock stellte den Wagen ab und ging aufs Schulgelände. Fabio entdeckte ihn, fing den Ball wieder auf und drückte ihn gegen die Brust.
»Hallo, Fabio. Was machst du hier?«
»Nichts. Nur ein paar Körbe werfen.«
Hambrock zögerte. Natürlich war der Junge seinetwegen da. Aber das wollte er offenbar nicht so deutlich zeigen.
»Warst du beim ASD?«, fragte er. »Haben die dir weiterhelfen können?«
»Ja, ich war da. Die haben mir so eine Adresse gegeben. Da soll ich morgen hin.«
Er zog einen zerfledderten Zettel aus der Tasche seines Kapuzenpullovers. Eine Adresse war darauf gekritzelt worden. Es war das Projekt für Schulverweigerer, von dem Hambrock gehört hatte.
»Ich hab da mit einer Frau telefoniert«, meinte Fabio. »Die war Sozialarbeiterin oder so was. Hörte sich ganz nett an.«
»Ist doch super. Siehst du. Da kommst du bestimmt weiter. Die kennen sich mit solchen Fällen aus. Die wissen, was zu tun ist.«
Fabio lächelte scheu. »Ja, mal sehen.«
Hambrock betrachtete ihn. Da war noch etwas. Der Junge war nicht hergekommen, um ihm von seinem Besuch beim ASD zu erzählen.
»Wie geht’s dir sonst?«, fragte er. »Kommst du mit deiner Oma klar?«
Er zuckte mit den Schultern. »Geht schon. Die ist eh nie da.« Dann trat er von einem Bein aufs andere. »Ich hab da noch einen Zettel. Der kam mit der Post.«
»Einen Zettel? Und worum geht’s da?«
Fabio zog ein weiteres zerfleddertes Papier aus seinem Kapuzenpulli hervor. Er reichte es Hambrock. Es war ein Brief von einem Inkassounternehmen. Hambrock faltete ihn vorsichtig auseinander und strich ihn glatt. Die Forderung belief sich auf knapp dreihundert Euro. Dazu die üblichen juristischen Drohungen.
»Der ist mit der Post gekommen«, wiederholte Fabio. »Aber … Ich hab die Kohle nicht. Was passiert denn jetzt? Das hört sich total krass an, was die da schreiben. Komm ich etwa in den Knast?«
Hambrock runzelte die Stirn. »Was ist das überhaupt für eine Forderung? Einhundertvier Euro von der Firma Cycle-Classic … Das ist von einem Zeitschriftenverlag, richtig?«
»Glaub schon. Na ja, ich hab da was unterschrieben. Wegen einer Motorradzeitschrift. Die standen in der Fußgängerzone.«
»Aber da wusstest du doch schon, dass du das nicht zahlen kannst, oder?«
»Nein. Das sind nur zwei Euro, haben die gesagt.«
»Pro Ausgabe?«
»Ja, kann schon sein.«
»Und wie oft erscheint die?«
»Jede Woche. Ich dachte aber auch, die kommt nur einmal im Monat oder so.«
Hambrock begriff nun, was passiert war.
»Und dann solltest du den Jahresbeitrag für dein Abo auf einen Schlag bezahlen?«
Fabio antwortete nicht. Es schien ihm peinlich zu sein, wie leicht er sich übers Ohr hatte hauen lassen. Hambrock fand es jedoch überhaupt nicht peinlich. Eher fand er es traurig, dass keiner da war, der dem Jungen ab und zu bei solchen Dingen den Kopf wusch.
»Du musst darauf reagieren. Das kannst du nicht aussitzen. Am besten schreibst du denen, dass du den Betrag nicht begleichen kannst, aber bereit bist …« Er stockte.
Die würden wohl kaum einen Brief ernst nehmen, den Fabio selbst aufgesetzt hatte. Außerdem wäre es sicher besser, die Inkassoleute würden sehen, dass der Junge nicht allein auf weiter Flur stand, sondern jemanden an der Seite hatte, der in der Lage war, Verhandlungen zu führen.
»Komm mit«, sagte er. »Wir gehen in mein Büro. Ich schreib dir was, das du dahinschicken kannst.«
Fabio wirkte erleichtert. Er dribbelte seinen Ball neben Hambrock her und folgte ihm zum Präsidium. Irene Böhm ließ die beiden durch die Schleuse. Sie blickte aus ihrem Glaskasten heraus und zwinkerte Hambrock zu.
Fabio wirkte in den Fluren des Präsidiums etwas eingeschüchtert. Offenbar war das für ihn ein bisschen zu viel Polizei auf einen
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