Landgericht
drang leise blecherne Musik. Es war Michael, der Gymnasiast aus Gertenbeck, der mit seiner Zeugenaussage alles durcheinandergebracht hatte.
»Er wollte unbedingt mit dir reden«, fuhr Irene fort. »Ich habe ihm gesagt, du bist beschäftigt. Er solle mit Keller oder jemand anderem aus der Gruppe sprechen. Aber das wollte er nicht.«
Hambrock antwortete mit einem Brummen. Falls Michael dachte, Hambrock wäre der »Good Cop«, vor dem er keine Angst haben müsse, dann sollte er ihn von einer anderen Seite kennenlernen. Er würde sich nicht noch einmal für dumm verkaufen lassen.
»Danke, Irene. Ich rede mit ihm«, sagte er und ging mit großen Schritten auf die Sitzgruppe zu.
Michael hob den Kopf. Er erkannte ihn sofort. Eilig zog er die Ohrstöpsel heraus und schaltete die Musik ab. Dann strich er sich nervös die Haare aus dem Gesicht. Es schien ihm unangenehm zu sein, dem Kommissar gegenüberzutreten.
»Ist dir noch etwas anderes eingefallen, was du uns bislang verschwiegen hast?«, begrüßte Hambrock den Jungen.
»Nein, ich … nein, das war alles.«
»Du hast uns große Probleme gemacht. Das wird noch ein Nachspiel für dich haben. Du hättest damals ehrlich sein müssen, als die Polizei dich befragt hat.«
»Ja, ich weiß. Das tut mir auch leid.«
»Drei Mitschüler von dir wären vielleicht wegen Mordes verurteilt worden. Obwohl jetzt gar nicht mehr sicher ist, ob sie Marius überhaupt getötet haben. Du wirst vor Gericht aussagen müssen. Ob dir da jemand glaubt, ist allerdings offen. Verstehst du, Junge? Es kann sein, dass die drei verurteilt werden, weil dir keiner mehr glaubt.«
Michael stand da wie ein geprügelter Hund. Hambrock spürte, dass er weich wurde. Er ärgerte sich über sich selbst.
»Jetzt setz dich erst mal wieder hin«, sagte er und deutete auf die Sitzgruppe. »Und sag mir, weshalb du hergekommen bist.«
Sie nahmen Platz, und Michael zog sein Smartphone hervor.
»Ich möchte das alles wiedergutmachen«, sagte er. »Ich weiß, dass es falsch war, was ich gemacht habe. Gestern habe ich mit meinem Klassenlehrer gesprochen. Er will mir helfen. Er sagt, ich soll keine Angst vor den anderen Schülern haben. Und dann … also, ich hab da was.« Er fingerte an dem Smartphone herum. »Ich glaube, das ist wichtig.«
»Ist dir noch was eingefallen? Oder geht es hier …?«
»Nein, nein. Ich bin gestern Abend mit dem Zug von Münster nach Gertenbeck gefahren. Und in dem Zug war jemand, den ich schon lange nicht mehr gesehen habe. Den hatte ich schon vergessen. Sie müssen wissen, das sind oft die gleichen Gesichter, die abends mit dem letzten Zug fahren. So wie Marius Baar, der war auch ständig in dem Zug.«
Er sah von seinem Display auf und blickte Hambrock scheu in die Augen. »Ich sag Ihnen, den Typen hatte ich total vergessen. Aber früher war der auch ganz oft im letzten Zug. Als Marius noch mit dabei war. Ich kann mich genau erinnern. Der sah nämlich ein bisschen gruselig aus. Und manchmal wirkte es, als ob er sich für Marius interessierte. Er beobachtete ihn. Und an dem Abend, als … na ja, als das alles passiert ist, da hat Marius ihn angebrüllt, weshalb er sich nicht um seinen eigenen Kram kümmert. Er soll ihn in Ruhe lassen. Marius schien an dem Abend ziemlich krass drauf zu sein, deshalb hat mich das auch nicht gewundert, dass er später in eine Schlägerei verwickelt wurde. Aber er hat diesen Typen vorher angemacht. Wahrscheinlich fühlte Marius sich von ihm beobachtet. Keine Ahnung, ob das für irgendwas gut ist, aber ich dachte, ich sage Ihnen das besser.«
»Jeder Hinweis kann uns weiterhelfen. Wie sah der Mann denn aus? Kannst du den beschreiben?«
Michael wandte sich wieder seinem Smartphone zu. »Ich hab ihn hier. Als er gestern Nacht im Zug saß, da war das wie eine Begegnung der dritten Art. Richtig gruselig. Seit Marius tot ist, habe ich den nämlich nicht mehr gesehen. Also hab ich heimlich ein Foto von ihm gemacht. Ich dachte, vielleicht hilft Ihnen das.«
Hambrock wusste nicht, was er von dieser Geschichte halten sollte.
»Das war sehr geistesgegenwärtig von dir«, sagte er. »Zeig mal das Foto.«
Michael reichte ihm das Smartphone. Das Bild war zwischen zwei Sitzen hindurch fotografiert worden. Es zeigte einen Mann, der aus dem Fenster sah. Er war breitschultrig, offensichtlich durchtrainiert. Das Gesicht war voller Aknenarben, die Stirn breit, der Blick düster. Er trug Armeehosen und eine Lederjacke, was ihn martialisch aussehen ließ.
»Wenn du
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