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Landgericht

Landgericht

Titel: Landgericht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Holtkoetter
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Taube. Es schmerzte ihn, seinen Bruder, dem er als Kind so nahegestanden hatte, in eine solche Gedankenwelt abdriften zu sehen. Aber andererseits war er auch wütend auf ihn und seinen Hass. Was war nur mit ihm los?
    Marius trat näher. Ein Platz am Tisch war verwaist.
    »Wo ist denn Nils?«, fragte er.
    Wenigstens ein freundliches Gesicht hätte er gern gesehen.
    »Bei einem Schulfreund«, sagte seine Mutter. Dann strich sie über die Tischdecke und betrachtete alles. Es war wie immer perfekt.
    »Setz dich doch, Marius. Wir wollen jetzt essen.«
    Sie stellte ein Backblech mit einem Zwiebel-Oliven-Kuchen auf den Tisch. Ein köstlicher Duft erfüllte den Raum.
    »Eine Pissaladière«, verkündete sie stolz. »Und dazu gibt’s einen Côtes du Rhône, einen besonders guten Jahrgang.« Sie setzte sich. »Ich wünsche guten Appetit.«
    Sein Vater nickte, als hätte sie ein Gebet gesprochen. »Den wünsche ich auch.«
    Während des Essens legte sich eine angespannte Stille über den Raum. Marius spürte, wie sich sein Schultergürtel verkrampfte. Die Kaugeräusche der anderen kamen ihm übermäßig laut vor. Sich selbst hörte er immer wieder geräuschvoll schlucken.
    Wie sehr unterschied sich dieses Zusammensein von den Mahlzeiten in Nathalies WG. Wie fröhlich es dort zuging, wenn sich alle über Nathalies Essen hermachten. Egal, wie wichtig seiner Mutter dieses tägliche gemeinsame Abendessen war – sie würde damit niemals auch nur annähernd ein solches Familiengefühl wecken wie Nathalie in ihrer WG.
    Noch zwei Wochen, dann ist dies alles Vergangenheit, sagte er sich. Mikey hatte tatsächlich eine Wohnung in Berlin aufgetrieben. Am Wochenende würden er und Nathalie einen Kurztrip dorthin machen und sie besichtigen. Das würde zugleich die letzte längere Fahrt mit seinem Mercedes werden. Eine würdige Abschiedsstrecke. Mit Höchstgeschwindigkeit über die A2 quer durch die Republik. Sein Auto wäre wohl das Einzige, was er wirklich vermissen würde.
    »Wie laufen die Klausuren?«, fragte sein Vater.
    Marius fuhr zusammen. Er sah auf. Sein Vater blickte ihm direkt in die Augen. Sein Gesichtsausdruck war nicht zu deuten. Marius hoffte, sich jetzt nicht zu verraten.
    »Ähm… ganz gut«, sagte er. »Das hoffe ich zumindest. Die Noten werde ich erst in ein paar Wochen erfahren.«
    Sein Vater kniff die Augen zusammen. Hier stimmte etwas nicht. Wusste er etwa, dass Marius die Klausuren geschwänzt hatte? Aber das war unmöglich. Es sei denn… Marius sah zu Nicole. Doch die saß bewegungslos da und trug das Gesicht einer Sphinx zur Schau.
    »Genug getan hast du ja dafür«, sagte der Vater. »Wir haben dich seit Wochen kaum noch zu Gesicht bekommen.«
    »Ja. Ich hoffe, dass es reicht.«
    »Wird Zeit, dass die Semesterferien anfangen. Du warst lange nicht mehr im Unternehmen.«
    »Mit den neuen Wachstumsergänzern entwickeln wir gerade völlig neue Produkte«, mischte sich Nicole ein. Die alte Streberin. »Die ersten Testbetriebe sind begeistert, und das spricht sich rum. Es tut sich sehr viel im Moment.«
    Ihr Blick war betont ausdruckslos, doch sie konnte das kleine spöttische Lächeln im Mundwinkel nicht unterdrücken.
    »Außerdem haben wir den Großkunden aus Österreich wohl an der Angel«, fuhr sie fort. »Schade, dass du nicht dabei warst.«
    »Ja, schade«, sagte der Vater und strich mit der Handfläche über den Tisch und sah Marius verächtlich an. »Nicole hat sich mit den Österreichern schon bekannt gemacht. Sie hat sie durchs Labor geführt.«
    Marius schwieg.
    »Aber vielleicht kannst du das ja bald nachholen«, sagte der Vater. »In den Semesterferien werden wir dich ja wieder häufiger sehen.«
    Danach wurde wortlos weitergegessen, bis seine Mutter aufstand, um die Teller abzuräumen und das Dessert zu holen. Nach dem Essen entschuldigte Marius sich und ging nach oben in sein Zimmer, um seine E-Mails zu checken.
    Als er sich später nach unten schleichen wollte, um eine Tüte Chips aus dem Vorratsraum zu holen, traf er auf Nicole. Sie stand ihm plötzlich im Flur gegenüber. Als hätte sie hinter einer Ecke gewartet und ihn abgepasst. Er beschloss, einfach an ihr vorbeizugehen. Sie zu ignorieren, war das Beste, was er machen konnte.
    »Du machst dich rar im Unternehmen«, sagte sie.
    »Stört dich das etwa?«, hielt er ihr entgegen und ging weiter.
    Er hatte bereits die Treppe erreicht, als sie meinte: »Mich nicht, aber Vater.«
    Er reagierte nicht darauf. Sollte sie sagen, was sie wollte. In zwei

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