Landgericht
ihm nichts anderes ein. In ihren Augen blitzte etwas auf. Sie schien sich schon wieder zu amüsieren.
»Ich fahre nach Essen«, sagte sie. »Meine Eltern leben da, und meine Mutter hat heute Geburtstag.«
Dieser Blick. Er spürte einen Stich. Was sollte er jetzt tun? Sich nach ihrer Telefonnummer erkundigen? Vom Bahnsteig drang eine Ansage: Bitte zurücktreten, die Türen schließen selbsttätig, Vorsicht bei der Abfahrt.
»Musst du nicht hier raus?«, fragte sie.
Er zögerte. Dann hob er eine Augenbraue und ließ sich den Scheitel ins Gesicht fallen. Eine Geste, von der er wusste, dass sie ihn verwegen aussehen ließ.
»Nein«, log er ganz offensichtlich. »Ich muss nach Essen.« Die Türen schlossen sich, und der Zug setzte sich in Bewegung. Sein Spiel war natürlich durchschaut, aber das war ihm egal. Er nahm Haltung an, trat an ihre Sitzgruppe, deutete auf den freien Platz und fragte: »Darf ich?«
Nathalie betrachtete ihn nachdenklich.
Dann begann sie zu lächeln.
4
Hambrock hatte wieder seinen Platz auf dem Zeugenstuhl eingenommen. Die Verhandlung wurde fortgeführt. Auch die drei Angeklagten saßen wieder auf ihren Plätzen und sahen zu Boden. Sie wirkten gefasst, und Tränen schienen vorerst nicht mehr zu fließen.
Richterin Schniederjohann befragte Hambrock noch eine Weile zu den Abläufen am Tatort und den anschließenden Ermittlungen. Er gab einen Überblick über die Zeugenbefragungen, den Spurenbericht, die Vernehmungen und die Geständnisse. Aber im Grunde gab es keine weiteren Einzelheiten mehr, die eine neue Perspektive auf das Geschehen gezeigt hätten.
Schließlich dankte die Richterin ihm und gab das Wort an die Staatsanwaltschaft. Josef Wübken, ein alter Bekannter von Hambrock, der, obwohl er noch ganze drei Jahre bis zum Ruhestand vor sich hatte, bereits jetzt aussah wie ein achtzigjähriger Märchenopa, sah freundlich zum Zeugenstuhl herüber. Er sagte nichts, und eine Weile schien es, als würden ihm gleich die Augen zufallen, doch dann durchfuhr ihn ein leichtes Zucken, und er meinte: »Keine weiteren Fragen, danke.«
Das Wort ging an die Nebenklage. Dort saßen die Anwälte der Familie. Mittendrin Klaus Baar, der Vater des Opfers, ein in jeder Hinsicht schwergewichtiger Unternehmer, und Marius’ Schwester Nicole, die Hambrock bereits während der Ermittlung kennengelernt hatte. Eine kühl wirkende und verschlossene Frau, die in ihrem teuren Kostüm viel älter aussah, als sie tatsächlich war. Die Anwälte und der Familienpatriarch steckten die Köpfe zusammen, und dann hieß es auch von dieser Seite: Keine weiteren Fragen.
Also erteilte Richterin Schniederjohann der Verteidigung das Wort. Eine junge Anwältin mit streng zurückgebundenen Haaren und stahlblauen Augen wandte sich an Hambrock. Die Robe stand ihr gut, und Hambrock fragte sich insgeheim, wie alt sie sein mochte. In jedem Fall gab es nicht viele Anwältinnen in ihrem Alter, die bei einer solch großen Verhandlung für die Verteidigung sprachen, das stand fest.
»Wir haben noch ein paar Fragen«, begann sie. »Zunächst zu dem Geschehen am Bahnhof.« Sie wandte sich an Hambrock. »Sie haben fünf Zeugen befragt, die mit dem Zug aus Münster gekommen sind. Wäre es möglich, dass da Fahrgäste vergessen wurden, die am Bahnhof in Gertenbeck ausgestiegen sind? Es könnte jemand übersehen worden sein, der nicht auf das Eintreffen der Polizei gewartet hat.«
»Das halte ich für unwahrscheinlich«, sagte Hambrock. »Keiner der Zeugen konnte sich an einen weiteren Fahrgast erinnern. Sehen Sie, der Zug hatte nur drei Waggons. Der Bahnsteig ist sehr übersichtlich. Die Fahrgäste, die in Gertenbeck ausstiegen, gingen gemeinsam über den schmalen Bahnsteig zur Unterführung. Kaum vorstellbar, dass da ein weiterer Fahrgast unbemerkt geblieben wäre.«
»Ausschließen können Sie aber nicht, dass es einen oder mehrere weitere Fahrgäste gab, die am Tatort waren und nicht gehört wurden?«
»Ausschließen kann ich gar nichts, ich halte es aber für extrem unwahrscheinlich. Die Zeugen stimmten in allen ihren Angaben überein. Und keiner hat einen weiteren Fahrgast gesehen. Davon auszugehen wäre reine Spekulation.«
Ihm war schon klar, worauf die Anwältin hinauswollte. Dennis Gröver, der Junge mit dem Kassengestell, hatte in den Vernehmungen immer wieder betont, dass Marius noch gelebt habe, als sie weggerannt seien. Er habe sich noch einmal umgedreht und dabei gesehen, wie ihr Opfer gestöhnt und sich bewegt habe. Nach
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