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Landgericht

Landgericht

Titel: Landgericht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Holtkoetter
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hatte.
    »Ich habe keinen Hunger«, sagte er.
    Im Stehen nahm er einen Schluck Kaffee zu sich. Dann stellte er die Tasse ab und nahm seine Jacke.
    »Ich fahre nach Münster«, sagte er. »Zur Uni.«
    Er musste mit Nathalie sprechen. Ihren Streit von gestern Nacht in Ordnung bringen.
    »Bist du heute Abend zum Essen wieder da?«, fragte seine Mutter.
    Er blickte sie an. Fragte sie das, weil sie fürchtete, er könnte nun doch für immer fortgehen? Von ihrem Gesicht war nichts abzulesen. Da war nur die übliche Kühle. Sie wartete.
    »Ja«, sagte er. »Ich glaub schon.«
    Dann wandte er sich ab und verließ das Haus. Nur raus hier.
    Draußen fiel ihm ein, dass sein Mercedes noch auf dem Firmenparkplatz stand. Seit dem Streit mit seinem Vater war er nicht mehr in Gertenbeck gewesen. Er sah auf die Uhr. Der nächste Zug nach Münster ging in wenigen Minuten. Also beeilte er sich, zum Bahnhof zu gelangen.
    Um diese Uhrzeit waren hauptsächlich Pendler unterwegs. Das Abteil war überfüllt, und Marius nahm auf einem Klappsitz Platz. Er spürte die Müdigkeit in den Knochen. In den letzten zwölf Stunden war viel geschehen, doch irgendwie fühlte es sich an, als wäre das alles jemand anderem passiert. Er musste mit Nathalie reden. Ihren Streit von gestern aus der Welt schaffen.
    Sie hatten sich in Träumen verloren. Diese Vorstellung, einfach abzuhauen und woanders neu anzufangen, das waren pubertäre Phantasien gewesen. Marius war das jetzt klar. Er war sicher, dass auch Nathalie es verstehen würde.
    Er würde eines Tages die Firma übernehmen. Was sollte er auch sonst tun im Leben? Sein Weg war immer vorgezeichnet gewesen. Daran war im Grunde auch nichts Schlechtes. Vor allem musste das ja nicht das Aus für Nathalie und ihn bedeuten!
    Er blickte sich um. Im Zug war kein vertrautes Gesicht. Nur Fremde. Irgendwie schien ihm das bedeutsam zu sein – als wäre es ein Zeichen für das Heraufziehen einer neuen Zeit. Aber das war natürlich Unsinn. Er fuhr ganz einfach mit einem viel früheren Zug als üblich, deshalb dieses ungewohnte Bild.
    Jetzt musste er nur noch Nathalie überzeugen. Er wollte sich auf das Gespräch mit ihr gründlich vorbereiten. Alles würde darauf ankommen, dass er den richtigen Ton traf. Er musste sie überzeugen. Schließlich war Marius immer noch derselbe Mensch, auch wenn er in der Firma bleiben würde. Wenn sie ihm die Sache mit Berlin erst einmal verziehen hatte, wäre alles möglich. Sein Vater war bereit, sie wie eine Tochter aufzunehmen. Marius würde Nathalie ein gutes Leben bieten können. Es würde ihr nichts fehlen. Sie würden eine gemeinsame Wohnung beziehen können. In Gertenbeck, vielleicht sogar in Münster. Dann würde Nathalie nicht mehr in diesem winzigen Loch leben müssen, in dem sie mit Mikey wohnte. Marius würde ihr ein besseres Leben ermöglichen, so wie es sich für einen Mann gehörte.
    In Münster angekommen fühlte er sich jedoch noch nicht bereit. Er hatte zu große Angst vor dem Gespräch. Eine Weile saß er in einem Park auf einer Bank, dann spazierte er durch die Stadt. Erst am späten Vormittag hatte er genug Mut zusammengenommen, um zu ihrer Wohnung zu gehen.
    Als er das Haus erreichte und die Klingel drückte, hatte sich in den Straßenschluchten bereits die Mittagshitze ausgebreitet. Er hatte keine Ahnung, ob Nathalie überhaupt zu Hause war. Mikey arbeitete jedenfalls auf dem Stadtfest, und das war auch besser so.
    Ein Knacken in der Gegensprechanlage.
    »Ja?« Nathalies Stimme.
    »Ich bin’s. Bitte lass mich rein.«
    Zögern. Doch schließlich ging der Summer.
    Marius ging zur Wohnung hinauf, wo Nathalie ihn bereits erwartete. Sie sah aus, als hätte sie nicht geschlafen. Ihre Augen waren rot und geschwollen und die Haut blass. Marius blieb stehen. Er fühlte sich schuldig.
    »Darf ich hereinkommen?«, fragte er.
    Sie betrachtete ihn. Dann trat sie schweigend zur Seite und ging in die Küche. Marius folgte ihr durch den schmalen Wohnungsflur. Nathalie ließ sich am Küchentisch auf einen Stuhl sinken. Sie zog eine Zigarette aus der Schachtel und zündete sie an. Vor ihr stand ein überquellender Aschenbecher.
    »Tut mir leid wegen Berlin«, sagte er.
    Sie blickte nicht auf. »Es ist also dein Ernst.«
    »Sieh doch, Nathalie …«
    »Nein. Vielleicht ist es besser, wenn du jetzt …«
    »Nathalie! Ich will dieses Leben nicht!«, brach es aus ihm heraus. »Berlin. Diese dreckige, dunkle Wohnung. Das asoziale Umfeld. Kein Geld zu haben, immer bescheiden zu sein.

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