Landgericht
laufen.«
Hambrock wollte seinen Blick losreißen, doch stattdessen blieb er einfach unbewegt stehen. Da war immer diese Sehnsucht gewesen, eigene Kinder zu haben. Schon als junger Mann hatte er davon geträumt. Doch es war nie etwas daraus geworden.
Erlend spürte offenbar, was los war. Sie umarmte ihn und legte ihren Kopf an seine Schulter.
»Weißt du, Fabio hätte allen Grund gehabt, wütend zu sein«, sagte er. »Seinen Hass auf die Welt abzulassen. Aber stattdessen waren das diese wohlerzogenen Jungen aus gutem Hause, die auf Marius losgegangen sind. Ob die ihn nun ermordet haben oder nicht, spielt keine Rolle. Im Gegensatz zu Fabio hatten die alles im Leben. Trotzdem war es nicht Fabio, der daherlief und irgendeinen Passanten ohne Grund zu Boden prügelte.«
»Nein, alles hatten die sicher nicht. Was Fabio nämlich hat, ist ein gutes Herz.« Erlend drückte sich ganz fest an ihn. »Es tut mir leid«, wiederholte sie.
Nachdem er sich aus der Umarmung gelöst hatte, nahm er den Notizblock und machte sich auf den Weg ins Präsidium. Irene Böhm hatte ihren freien Tag, stattdessen saß ein junger Mann, den Hambrock nicht kannte, an der Pforte. Oben auf dem Flur kam ihm Henrik Keller entgegen.
»Hambrock, da bist du ja. Ein bisschen spät, oder?«
»Kann schon sein. Fangen wir gleich mit der Morgenbesprechung an.«
»Na ja. Vielleicht warten wir noch ein bisschen damit. Wir haben nämlich Besuch. Der Baar-Filius ist hier aufgetaucht. Er will mit uns reden.«
»Nils? Ohne einen Erziehungsberechtigten?«
»Nein. Es ist nicht Nils, sondern Roland.«
Damit hatte Hambrock nicht gerechnet.
»Er sitzt in meinem Büro«, sagte Keller. »Willst du erst mal in Ruhe ankommen? Sollen wir ihn noch ein bisschen warten lassen?«
»Nein, nein. Schon gut. Ich bring nur schnell meinen Mantel weg.«
Hambrock verschwand kurz in seinem Büro und folgte dann Keller ins Nachbarzimmer. Roland Baar hockte am Besuchertisch und blickte finster drein. Neben dem Stuhl stand seine Schultasche, offenbar war er auf dem Weg zum Paulinum vorbeigekommen. Hambrock sah zur Wanduhr, die über Kellers Schreibtisch hing. Die erste Stunde hatte bereits begonnen.
»Guten Morgen, Roland«, sagte Hambrock. »Was verschafft uns die Ehre?«
»Nils ist weg«, sagte er düster.
»Wie bitte?«
»Er ist abgehauen. Seit gestern Mittag hat ihn keiner mehr gesehen.«
Hambrock war perplex. Nils war während ihres Besuchs in Gertenbeck durchs Fenster verschwunden. Und jetzt gab es seitdem kein Lebenszeichen von ihm. Er fragte sich, was das zu bedeuten hatte.
»Ich glaube, er weiß was«, sagte Roland.
Hambrock zog den Stuhl zurück und setzte sich ihm gegenüber. Er fixierte den Jungen. Roland sah übernächtigt aus. Offenbar hatte er in der letzten Nacht nicht viel Schlaf bekommen.
»Du meinst, er weiß etwas über die Tatnacht?«
»Ja. Ich glaube, er hat was gesehen. Nils macht das ständig: Nachts durchs Fenster abhauen und in der Gegend herumstromern. Und seit der Sache mit Marius redet er kaum noch mit mir. Seit dieser Nacht ist er ganz seltsam. Nie zu Hause. Verschlossen. Abweisend. Ich kann mir das nur so erklären, dass er etwas weiß.«
»Hast du das auch deinen Eltern gesagt?«, fragte Hambrock.
»Nein. Die wissen nicht mal, dass ich hier bin. Sie wollen die Polizei nicht einschalten. Mein Vater sagt, Nils taucht schon wieder auf, wenn er Hunger hat. Da brauchen wir keine Polizei. Aber ich denke, Sie sollten ihn finden. Das könnte wichtig sein.«
Hambrock betrachtete ihn nachdenklich. Bei ihrer letzten Befragung auf dem Schulhof des Paulinums hatte sich ihnen noch ein völlig anderes Bild geboten.
»Hast du gar keine Angst vor dem, was passiert, wenn dein Vater herausfindet, dass du hier warst?«
»Ich mache das wegen Marius. Vielleicht redet Nils ja mit Ihnen, wenn Sie ihn auf diese Nacht am Bahnhof ansprechen. Mit mir redet der sicher nicht.«
»Also ist dir egal, was dein Vater dazu sagt?«
»Das mit Marius und mir … Früher war das anders. Er war mein großer Bruder, ich wollte unbedingt so werden wie er. Wir waren richtige Freunde. Das war, als wir noch Kinder waren. Mir tut das alles so leid. Das mit Lennard und was ich dem gesagt habe. Ich wusste ja nicht, dass diese Sache so eine Eigendynamik bekommt und dass später dieser Mikey dran glauben muss. Auch das mit der Taube tut mir leid. Überhaupt wünschte ich, wir hätten uns in den letzten Jahren besser verstanden, Marius und ich. So wie es früher mal gewesen
Weitere Kostenlose Bücher