Landleben
Schluss
gekommen, dass Henrys Schweigen nicht weise war, son-
dern dass Jahre gewissenhafter Schufterei im Dienste der
banalsten Regeln und Richtlinien von Connecticut ihn ab-
gestumpft hatten. Er war dunkelhäutig, nicht groß, und er
ging, als hätte er ein Brett verschluckt, sodass sein Kopf
und seine Pfeife vorragten, wenn er durch die Welt trottete
wie ein Bauer unter einem Bündel Reisig.
Vanessa war ein bisschen jünger als er – in seinem Büro
in Hartford war sie eine seiner Untergebenen gewesen –
und wirkte forsch und alterslos und so zielstrebig in ihren
Bewegungen, dass man nicht auf die Idee kam, die Jahre
zu zählen. Ihr unauffälliges, androgynes Gesicht, zu jeder
Jahreszeit von der Sonne gebräunt – denn sie lief begeistert
Ski, spielte aber ebenso gern Golf und Tennis und gärtner-
te –, war außergewöhnlich frontal; das hieß, während Owen
sich Henry immer im Profil vorstellte, in Gedanken und
auf dem Weg irgendwohin, sah Vanessa den Menschen in
die Augen, wie um sie herauszufordern, nervös zu blinzeln oder zu lächeln. Mit derselben unterschwellig herausfor-
dernden Autorität beherrschte sie die verschiedenen Ko-
mitees der Stadt, in denen sie Mitglied war, desgleichen
ihren Bridge-Kreis und den Gartenclub. In ihrem eigenen
Garten war sie eine beeindruckende Gestalt, mit Hand-
schuhen und langen Ärmeln zum Schutz vor Rosendornen
und mit langen Hosen, in denen sie bis zu den Hüften in
Rittersporn und Phlox und sorgfältig an Stöcken befestig-
ten Peonien stand, ihr wachsames, ernstes Gesicht unter
dem losen Geflecht des Strohhuts im Schatten und mit ei-
nem gleichmäßigen Muster aus Sonnentupfern überzogen.
Die Blumen, so wirkte es auf Owen, machten sie weicher,
fügten ein weibliches Element hinzu, das ihrem direkten
Blick, ihrer barschen Art und ihrer rauen Tenorstimme fehl-
te. Die Slades waren eine Einkindfamilie, was sie zu einem
ungewöhnlichen Paar machte und etwas Abgeschlossenes
und Festgefügtes in ihrer Ehe andeutete. Das Kind war
ein ernst blickender Junge mit olivbrauner Haut, der Vic-
tor hieß. Unter den vielen Paaren, die die Mackenzies in
Middle Falls kennen gelernt hatten, waren die Slades nicht
etwa ungewöhnlich in dem Sinne, dass der Mann eine ko-
mische Figur abgab und die Frau nicht. Die Frauen besaßen
Kompetenz, etwas Geheimnisvolles, und zumindest einen
Anflug von Schönheit. Vanessa war nicht schön – sie legte
wenig Wert auf ein Make-up, und ihre oberen Schneidezäh-
ne standen, wie Owens, zu eng für den Kiefer und hatten
die Eckzähne nach vorn geschoben – aber sie war würdevoll
und nüchtern und sachlich. Wie sachlich, wurde Owen erst
bewusst, als sie bei einer Party, die von Dwight und Patricia
Oglethorpe, den Nachbesitzern des Hauses der Dunhams,
gegeben wurde, auf einem alten, mit gestreiftem Satin be-
zogenen zweisitzigen Sofa – man nannte es Liebessofa – am Rande der Tanzfläche neben ihm saß. Vanessa hatte sich zu
ihm gesetzt und sagte mit leiser Stimme: «Wir sollten uns
mal zum Lunch treffen.»
Zu überrascht, um eine ausweichende Antwort zu fin-
den, fragte Owen: «Warum?»
Auf diesen Schnitzer reagierte sie mit einem langsamen,
gebremsten Lächeln. Die ungleichmäßigen Zähne hatten
ihr zu einer seltsamen Quelle der Macht verholfen: Es war
die Seltenheit ihres Lächelns. «Normalerweise gibt es nur
einen Grund, oder? Um zu sehen, ob man sich wieder zum
Lunch treffen möchte.»
Zögernd jetzt, abgelenkt von dem Anblick seiner gro-
ßen, langhalsigen Frau, die, keine drei Meter entfernt, mit
Vanessas vornübergebeugtem, ohne Rhythmus stolpern-
dem Ehemann tanzte, fragte er: «Macht man das so?» Phyl-
lis blickte stoisch über Henrys Kopf hinweg; der Himmel
wusste, was sie gerade dachte.
Vanessa drückte mit einer stoßenden Bewegung ihrer
Zigarette, einer extralangen Pall Mall, ihre Ungeduld aus.
«Owen, warum spielst du immer den Unschuldigen? Du
bist nicht unschuldig.»
«Nein? Ich fühle mich noch unschuldig. Woher weißt
du, dass ich es nicht bin?»
«Alle wissen das, du Dummer.» Ihre Männerstimme
wurde schroff. «Spiel nicht mit mir rum, sonst kommen wir
nicht weiter.»
«Du meinst Faye?»
«Und andere, nach Faye. Faye war der Anfang. Wir müs-
sen alle einen Anfang machen.»
«Du auch?»
Vanessa sagte nichts, inhalierte nur den Rauch und ließ
ihn aus den Nasenlöchern, vor ihrem langsamen Lächeln, aufsteigen. Er begann sie zu sehen – ihre kleine hübsche
Katzennase, die dichten dunklen Augenbrauen,
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