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Landleben

Landleben

Titel: Landleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
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unterbrach er sie, etwas eingeschnappt nach
ihrem vorangegangenen Gespräch und wegen dieses Som-
merliebhabers, über den sie nicht weiter reden wollte. «Ich
weiß, wann die englische Renaissance war.»
    «Klar, natürlich. Manche Leute wissen das nicht. Das
Gebiet meines Vaters umfasst nicht nur die Dichter und
Dramatiker, Shakespeare und so, die jeder kennt, sondern
auch diese Prosaschriftsteller, die heute kein Mensch mehr
lesen will, Sidney und Bacon und Lyly und Lodge, die im-
mer auf diese kunstvolle Art über Arkadien schreiben – er
findet sie großartig. Daher kommt auch mein Name – in all
diesen alten Gedichten wimmelt es von Frauen, die Phyl-
lis heißen – die lebhafte, ratkräftige Phyllis, die unartige
Phyllis. Aus mir ist dann allerdings eine verträumte Phyllis
geworden, eine Enttäuschung.»
    «Für mich nicht. Und für ein paar andere auch nicht,
wenn ich recht verstehe.»
    «Vor ungefähr zehn Jahren», fuhr sie fort, ohne sich
von ihrem gerade bevorzugten Thema abbringen zu las-
sen, «als der Professor, der achtzehntes Jahrhundert un-
terrichtet, sein Sabbatjahr machte, hat Daddy sein Gebiet
noch dazugenommen – Dryden und Bunyan, Addison und
Steele, Boswell und Johnson –, und er ist darin aufgegangen, hat das alles durchgearbeitet, Regale von diesem unmöglich trockenen alten Zeug. Meine Mutter sagt, er versteckt sich
in Büchern.»
    «Mein Vater hat sich hinter Zahlen versteckt.»
    «Das mache ich auch. Ich würde ihn ja gern eines Tages
kennen lernen.» Owen scheute zurück vor dem Versuch,
sich eine Begegnung zwischen dem armen, niedergedrück-
ten Floyd Mackenzie mit seinem empfindlichen Magen
und seiner unbedeutenden Stellung und dieser verwöhn-
ten Prinzessin aus Cambridge auszumalen – es würde so
peinlich und so schmerzlich sein wie die zwischen seiner
Mutter und Elsie. Unsere Eltern brüten uns aus, aber sie
können an unserer Arbeit in der Welt nicht teilhaben. Phyl-
lis erklärte es ihm, bemüht, ihm etwas von ihrem Innersten
zu vermitteln. «Findest du Mathematik denn nicht schön?
Wie eine endlose Reihe goldener Ketten, jedes Glied mit
dem vorhergehenden verbunden, die Lehrsätze und die
Funktionen, jedes macht das nächste unvermeidbar. Es
ist Musik, die mitten im Raum hängt und nichts weiter
als sich selbst bedeutet, und so bewegend, Owen.» Brauchte
er diesen Anstoß? War er im Begriff gewesen, an der Sei-
te ihres langen, besänftigenden Körpers einzuschlafen? Es
stimmte, bei ihr konnte er entspannen, als wäre er endlich
angekommen. «Früher musste ich dabei immer weinen», sagte sie, «als Teenager, wenn eine Aufgabe sich vor mir
entschlüsselte – wie sie an einem gewissen Punkt auf-
knackt und wie sie aufhört, ganz außen zu sein, und dann
ganz innen ist, solange du an die Gleichungen glaubst und
sie nachvollziehst. So wie wenn man am Strand eine Kö-
nigskrabbe umdreht, und sie zappelt mit allen Beinchen
und peitscht mit dem Schwanz, weil sie sich wieder umdre-
hen will. Nein, meine Eltern haben mich nicht ermutigt.
Sie waren der Ansicht, die Naturwissenschaften seien für Arbeitstiere, für schmuddelige Typen, normalerweise aus
dem Mittleren Westen. Ich habe ihnen zu erklären ver-
sucht, dass die Mathematik keine nützliche Arbeit verrich-
tet, sondern nur unnütze. Was allerdings nicht ganz stimmt:
Physik und Technologie hängen von der Infinitesimalrech-
nung ab. Und von der Mengenlehre.»
    «Verstehst du denn», fragte er – und eine solche Frage
musste eine intimere Umgebung verlangt haben als eine
Ecke, und sei es eine dämmerig beleuchtete Ecke in der
Besucherhalle in dem Haus 120 Bay State Road; vielleicht
war es in ihrem Zimmer in Bexley Hill gewesen, gegen die
Hausregeln, an einem Wochenende, wenn ihre Mitbewoh-
nerin, Sally Fazio aus Providence, zu Hause in Rhodes Is-
land war oder zum Skifahren in New Hampshire – «Men-
genlehre? Ich meine, warum ist sie so wunderschön?»
    «Ich glaube schon. Sie ist wunderschön, so elementar
und originell. Du weißt, dass sie die Erfindung eines ein-
zelnen Mannes ist. Newton und Leibniz haben die Infi-
nitesimalrechnung unabhängig voneinander erfunden,
und Lobatschewskij und Bolyai haben das Gleiche für die
nichteuklidische Geometrie getan, und hätten sie es nicht
getan, dann hätte es Gauss getan – sie wartete nur darauf,
gefunden zu werden –, aber ohne Cantor wäre die Men-
genlehre vielleicht nie entstanden. Hubert hat einmal ge-
sagt, niemand wird uns je aus dem Paradies vertreiben, das
Cantor

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