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Landnahme

Landnahme

Titel: Landnahme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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wusste nicht, was eine schwarze Stimme ist, aber ich glaubte ihr aufs Wort, und dann sang sie vor dem Kino ein englisches Lied, von dem ich nur verstand, dass es um Jesus ging. Es hörte sich gut an, sehr gut, und das sagte ich ihr auch. Dass ich am liebsten Schlager höre und eigentlich nichts anderes, sagte ich ihr nicht.
    »Und jetzt musst du nicht auftreten? Hast du Urlaub?«
    »Nein, die Jungs von der Band sind in Berlin. Wir wollen eine Platte machen, und sie versuchen, die Kontakte zu knüpfen.«
    »Eine Schallplatte?«
    »Klar. Ohne Beziehungen ist das schwer. Wenn du Beziehungen hast, kannst du eine Piepsstimme haben, das macht nichts, da werden Platten hergestellt. Aber ohne Beziehungen und dann noch Jazz oder Gospel, da kannst du Gold in der Kehle haben, da tut sich nichts. Naja, vielleicht haben die Jungs Erfolg. Dann bin ich für zwei Monate in Berlin, um die Aufnahmen zu machen.«
    Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und stand vor ihr wie das letzte dumme Huhn. Ich hatte noch nie einen Menschengesehen, der demnächst auf einer Schallplatte zu hören war. Die Sänger auf den Schallplatten, das waren Könige für mich, unerreichbar und aus einer anderen Welt. Ich hatte mir gar nicht vorstellen können, dass es ganz normale Leute sind, die man auf der Straße treffen und mit denen man reden kann. Und ich sollte mit solch einer Traumprinzessin gleich zusammen ins Kino gehen!
    »Hast du von uns mal was gehört? Wir waren schon zweimal im Radio, die Ricks und Babsy.«
    »Ich glaube nicht. Ich höre die Schlager der Woche, sonst höre ich kaum Radio.«
    »Schlager der Woche«, sagte sie verächtlich und lachte.
    »Wann kann man dich im Radio hören? Ich würde dich gern einmal im Radio hören.«
    »Ich weiß nicht. Vielleicht im nächsten Jahr wieder. Oder wenn wir in einem Wettbewerb auftreten, denn der wird übertragen. Im nächsten Monat sind wir in Gera und anschließend sechs Wochen in Leipzig, doch das ist alles Barmusik. Rote Rosen, Caprifischer, schwarze Augen, das wollen die Leute dort hören.«
    In den vier Wochen, die Babsy ihren Großvater versorgte, wurden wir die besten Freundinnen. Wir waren fast jeden Tag ein paar Stunden zusammen, ich ging zu ihr in die Schützenstraße, wo ihr Großvater ein winziges Häuschen besaß, oder wir spazierten durch die Stadt und unterhielten uns. Wann immer sie mir anbot, irgendetwas mit ihr zusammen zu machen, sagte ich sofort zu, auch wenn ich mit Manfred verabredet war, der damals mein Freund war. Und manchmal vergaß ich sogar, ihm abzusagen, und der Arme stand dann irgendwo eine Stunde und wartete auf mich. Nur wenn sie ihre Großmutter im Krankenhaus besuchte, sahen wir uns nicht, und später, als sie mit Bernhard ging, hatte sie kaum noch Zeit für mich.
    Babsys Kleider waren alle sehr kurz. Ihre zwei Koffer hatte sie sich mit der Bahn schicken lassen, weil auf ihremMotorroller zu wenig Platz war und sie nicht wie ein Packesel reisen wollte. Mit ihren Kleidern erregte sie Aufsehen, manchmal hatte sie ein tolles Dekolleté oder der Rücken war tief ausgeschnitten, und auch wenn das Kleid streng geschlossen war, hatte es irgendwie Pfiff, und außerdem konnte sie sich darin bewegen, als sei es ihr auf den Leib geschneidert. Und fast jeden Tag hatte sie etwas anderes an. So unverschämt kurz sie herumlief und wie sehr sie den Männern den Kopf verdrehte, denn alle drehten sich nach ihr um, ihr war nie jemand böse, auch nicht die älteren verheirateten Frauen, deren Männer minutenlang auf Babsy starrten und sie mit den Augen geradezu verschlangen. Sie hatte eine Art an sich, andere Menschen für sich einzunehmen, die das missgünstigste Schandmaul zum Verstummen brachte. Ich glaube, jedes andere Mädchen in der Stadt, dem eingefallen wäre, so kurz wie Babsy herumzulaufen, wäre als Flittchen und Hure verschrien gewesen, doch Babsy erwiderte auf die größten Unverschämtheiten irgendetwas Nettes, und schon war das Eis gebrochen. Ich war dabei, als die Apothekersfrau sie auf der Straße anhielt und ihr sagte, dass ihr Kleid etwas arg kurz sei.
    Babsy schaute an sich herunter, schlug sich erschrocken die Hand vor den Mund, riss die Augen weit auf und sagte: »Tatsächlich! Aus dem Kleid bin ich längst herausgewachsen. Da sollte ich mir rasch einen Saum annähen, aber einen sehr breiten Saum.«
    Und dann lachte sie laut auf, so dass die Apothekersfrau lächeln musste und das böse Glitzern in ihren Augen verschwand.
    Irgendetwas hatte diese Babsy an sich,

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