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Landnahme

Landnahme

Titel: Landnahme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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Meister lobte mich. Er war der Einzige, dem ich das Steuer überließ, weil ich wusste, er konnte mit dem Wagen umgehen.
    Am 2. November begannen bei Gitti die Wehen. Mit dem Wagen brachte ich sie ins Kreiskrankenhaus. Während der Fahrt dorthin musste ich zweimal anhalten, weil ihre Wehen sehr heftig waren und sie danach ein paar Schritte gehen wollte. Ich hatte Angst, das Kind käme im Auto zur Welt und außer mir wäre keiner da, der Gitti helfen könnte, darum fuhr ich viel schneller als sonst. Im Krankenhaus ließ man uns fast eine Stunde in der Anmeldung warten, es gab viele Zettel auszufüllen, und die Ärzte seien beschäftigt, sagte man uns. Außerdem sei es ohnehin viel zu früh, und Gitti solle froh sein, ein bisschen umherlaufen zu können. Im Kreißsaal komme sie vom Bett nicht mehr herunter, und wenn sie sich jetzt viel bewege, sei das für die Geburt vorteilhaft. Schließlich brachte ich sie in die Frauenabteilung, eine Schwester nahm mir die Tasche ab und schickte mich nach Hause. Sie sagte, ich solle am Abend anrufen, dann werde man mir Bescheid geben.
    Vom Krankenhaus aus fuhr ich gleich in die Werkstatt,die Kollegen hatten sich schon gedacht, dass es bei Gitti so weit war und machten ihre Scherze. Kurz vor Feierabend rief ich im Krankenhaus an, man sagte mir, Gitti sei aus dem Kreißsaal in die Station verlegt worden, da die Wehen nachgelassen hätten und es sicher noch einen Tag dauern werde. Am nächsten Morgen rief ich von der Arbeit aus wieder an und hörte, dass es früh um vier passiert sei und dass Mutter und Kind wohlauf seien. Am Telefon wolle man mir nicht mehr sagen, auch nicht, ob es ein Junge oder Mädchen sei, diese Auskünfte würden grundsätzlich nicht telefonisch erfolgen. Ich fragte, wann ich Gitti sehen könne, und man sagte, die Besuchszeit beginne erst fünf Uhr nachmittags. Ich gab dem Meister Bescheid und ging an diesem Tag zwei Stunden eher. Daheim wusch ich mich sorgfältig und danach kaufte ich einen riesigen Dahlienstrauß, in der Gärtnerei gab es keine anderen Schnittblumen.
    Gitti lag in einem Fünf-Bett-Zimmer, sie war aufgeregt und sehr glücklich. Den ganzen Tag über hatte sie sich mit ihrer Bettnachbarin, einer Frau aus irgendeinem Dorf, unterhalten. Unser Baby habe sie viermal zum Stillen bekommen, es hatte kaum etwas getrunken und sei immerzu an der Brust eingeschlafen. Es war ein Junge. Ich freute mich, über ein Mädchen hätte ich mich aber genauso gefreut. Gitti stand vorsichtig auf und schlurfte dann mit mir zur Babystation. An einem großen Fenster blieben wir stehen, Gitti klingelte, eine Schwester erschien in der Tür, Gitti sagte, dass sie ihr Kind sehen wolle, die Schwester nickte und verschwand. Dann wurde die Gardine hinter dem großen Fenster beiseite gezogen und man konnte in ein Zimmer mit acht Babys schauen. Die Schwester nahm eins der Babys hoch und kam an das Fenster, damit wir es besser sehen können.
    »Das ist unser Baby, unser Wilhelm«, sagte Gitti stolz.
    Ich starrte es schweigend an, während sie ununterbrochen darüber redete, wie schön es sei. Irgendwie war esmerkwürdig. Die Ohren waren zerknautscht, die Nase war platt, auf der Stirn hatte es einen großen roten Fleck, und ein Auge schien geschwollen zu sein. Ich warf rasch einen Blick auf die anderen Babys, die sahen eigentlich nicht besser aus, sie waren rötlich und zwei von ihnen waren richtig rot. Unser Baby hatte dagegen eine bräunliche Hautfarbe, was mir besser gefiel. Da Gitti mich ununterbrochen fragte, ob mir das Baby gefalle und ob es nicht wunderschön sei, sagte ich, es sei toll und ich würde es gern einmal in den Arm nehmen.
    »Da musst du ein wenig warten«, sagte sie, »ich bekomme es nur zum Stillen. In drei, vier Tagen sind wir zu Hause, dann kannst du es von früh bis abends im Arm halten.«
    Sie winkte dem Baby immerfort zu, obwohl das die Augen geschlossen hielt, das geschwollene Auge war leicht geöffnet, sicher hat es nichts von uns gesehen.
    »Richtige Krautohren«, sagte ich.
    »Das wird alles noch. Das ist durch die Geburt gekommen. Stell dir vor, wie der arme Wurm rausgepresst wurde, da ist alles etwas gequetscht.« Dann drehte sie sich wieder zu der Glasscheibe um und sagte zu dem Winzling: »Willst du nicht deinen Vater begrüßen? Das gehört sich so.«
    In der Werkstatt sagte ich, dass es ein Junge sei und dass er Wilhelm heiße, und dann musste ich einen ausgeben. Nach der Arbeit fuhr ich jeden Tag ins Krankenhaus, brachte Gitti die Sachen, die sie

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